3000 Neugierige haben im Jahr 2013 Else in der Marienanstalt Münnerstadt besucht. Jetzt ist Else wieder da und hat den Bahnhof Münnerstadt mit Beschlag belegt. Dreieinhalb Monate wird Else hier residieren, und sie hat einiges zu bieten.
Else heißt korrekt „else!2“. Der Name ist kein Anagramm, wie das bei derlei Projekten sonst Mode ist, sondern einfach nur ein Name, dessen Mehrdeutigkeit den Namensgebern gefällt: „Else ist einerseits ein schöner alter Frauenname und kann andererseits auf das englische ,else' hindeuten“, sagt die Künstlerin Mia Hochrein. Else wie in „something else“ – mal was anderes also.
Abgefahrene Kunst im Bahnhof von 1874
„else!2“ – inhaltlicher Titel: „abgefahren!“ – ist die zweite Ausgabe eines Projekts, das die Belebung leer stehender Gebäude durch Kunst betreibt. Initiatorin Mia Hochrein bildet mit Christine und Oliver Schikora und Bärbel Krug das „else“-Team, Veranstalter ist der Münnerstädter Altstadtverein.
Der Münnerstädter Bahnhof, 1874 erbaut und ein Vertreter der Gattung „bayerischer Würfel“, jüngst angekauft von der Stadt, hat nicht wie viele seiner Artgenossen seine ursprünglichen Funktionen eingebüßt, es existiert hier der letzte bemannte Fahrkartenverkauf weit und breit. Die vier Wohnungen in den beiden Obergeschossen allerdings standen lange leer. Hier ist nun „else!2“ eingezogen. 18 Künstlerinnen und Künstler zeigen ab diesem Samstag und bis 21. Mai Grafik, Malerei, Skulptur, Installationen und Performances. Dazu gibt es ein gewaltiges Rahmenprogramm mit – Stand 27. April – 95 Veranstaltungen, von der Lesung über den Workshop bis hin zur „Häkelakademie“ Rainer Mößners, die etwa einen „Bommelabend“ anbietet. Alles ganz wörtlich gemeint: Es wird gehäkelt.
Das Haus mit Kunst vollstopfen von oben bis unten
Oliver Schikora erklärt das Grundkonzept, das ebenso einfach wie offen für Improvisation, Quereinsteiger oder Spontanideen ist, allerdings immer mit professionellem künstlerischem Anspruch: „Wir stopfen das Haus mit Kunst voll, vom Keller bis in den Dachboden.“ Nach den 18 international tätigen Künstlern in der großen Ausstellung bekommen ab 25. Mai regional arbeitende Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit, ihre Werke zu zeigen. Hinzu kommen Kooperationen, etwa mit dem Gymnasium gleich nebenan oder mit dem Verein Pro Asyl.
Zum Erfolg von else 1 trug damals die Neugier der Menschen auf das Gebäude bei. Ein Effekt, auf den die Macher auch diesmal hoffen – ein leer stehender Bahnhof müsste doch beträchtliche Anziehungskraft ausüben. Über diese Neugier können die Besucher dann zur Kunst finden und werden so mit Formen und Fragen konfrontiert, mit denen sie sich möglicherweise sonst nicht auseinandersetzen. Weiterer wichtiger Faktor: Viele Menschen aus der Stadt machen mit, helfen stundenweise beim Putzen, beim Aufbauen, an der Kasse oder im Ausschank. Neben der Kunst gibt es eine Lounge mit herrlicher 70er-Jahre-Tapete und -Sitzgelegenheiten, altdeutscher Kredenz und einen Kunstkiosk.
Freiwillige ziehen als „Fecher“ durch die Stadt
Einige Freiwillige beteiligen sich außerdem an der Kunst selbst, zum Beispiel als „Fecher“ (mit langem e) – diese Fecher ziehen tatsächlich fegend durch die Stadt, ganz in Orange gekleidet, maskiert mit selbstgehäkelter Maske. Einer dieser Fecher betrat neulich aus Versehen um ein Haar mit Maske eine Bank. „Im letzten Moment bin ich draufgekommen, dass das keine so gute Idee war“, erzählt er.
Für die Künstlerinnen und Künstler wiederum ist die Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Räumen das Spannende. Grässlich gemusterte oder verrußte Tapeten, längst vergilbte Anstriche Schmierereien, Kritzeleien, Böden aller Art, Bäder, die längst nicht mehr auf dem neuesten Stand der Wellness-Kultur sind: Überall warten Herausforderungen auf die Künstler. „Mich selbst beißt da auch die Schlange“, sagt Mia Hochrein, „den Raum knacken mit der eigenen Arbeit.“
Wie zwei Farbstreifen einen Raum verändern können
Die Künstler nutzen die Räume auf höchst unterschiedliche Art. Elvira Lantenhammer aus Homburg am Main etwa hat ihren Raum mittels zweier breiter umlaufender Farbstreifen – gelb und blau – in einen dreidimensionalen Lageplan (so nennt sie alle ihre Bilder) verwandelt. Das Zimmer bekommt dadurch einen vollkommen anderen Charakter. Paul Diestel aus Kassel hat in seinem Raum alle Tapeten abgetragen, die nackten, vielfach zerschrammten Wände haben dadurch eine ganz eigene Textur bekommen und bilden den idealen Rahmen für Diestels von der Natur inspirierte Holzplastiken von großer Ausstrahlung: „Ich suche nach der Grundgeometrie des Seins“, sagt Diestel.
Sabine Rollnik bezieht sich in ihrer Arbeit „Zug um Zug“ direkt auf den Standort. Mit hintersinnigen Zeichnungen und Sprüchen skizziert sie Reiseerlebnisse (sie ist oft im ICE „Bettina von Arnim“ unterwegs) und kommentiert den Raum selbst. Etwa indem sie Gleise an ein Ofenrohr-Loch zeichnet und dieses dadurch zum Tunnel macht.
Es gibt auch klassische Galerie-Räume
Charlotte Mumm aus Amsterdam hat sich monatelang in das Thema Muster vertieft, im übertragenen wie im optischen Sinne – warum wir sie brauchen, wie sie uns einschränken, warum sie uns faszinieren. Entstanden ist eine großformatige, geometrisch anmutende Arbeit, die auch ein Stück Ratlosigkeit transportiert. Viele Menschen hat sie zu ihrem Verhältnis zu Mustern befragt, in der Hoffnung, so etwas wie eine Art übergeordnetes Grundmuster zu destillieren, dabei aber das Gegenteil erreicht: Letztlich sind Muster dann doch immer etwas Individuelles.
Andere nutzen die Räume als klassische Galerie. Peter Wörfel aus Schweinfurt etwa für seine meisterhaften Aquarelle. Nebenan setzt sich Linde Unrein in ihrer Serie aus Schwarz/Weiß-Zeichnungen mit dem „Abenteuer der Zweisamkeit“ auseinander, in dem sie immer wieder Hart mit Weich, Rund mit Eckig, Dunkel mit Hell verwebt und konfrontiert. Christel Burghard-Wörfel wiederum geht dem Mythos der Hohlen Erde nach, also dem Glauben, dass – von offiziellen Stellen verheimlicht – Menschen seit langer Zeit in einer Art Hohlraum unterhalb der Erdkruste leben. Titel: „Welt-Bild / Bild-Welt“.
Wie platt die politische Ikonografie mittlerweile geworden ist, zeigt eine Arbeit von Jan Polacek: Ein wuchtiger Torso mit Krawatte, auf dem kopflosen Hals ein Bündel gelber Gummihandschuhe und daneben eine grotesk vergrößerte Tröte in amerikanischen Farben. Die Anspielung ist unmissverständlich.
Projekt else2!, Bahnhof Münnerstadt, Vernissage Samstag, 28. April, 19.30 Uhr, Finissage Sonntag, 12. August, 17 Uhr. Geöffnet Donnerstag bis Sonntag und Feiertage 14-20 Uhr, Eintritt frei. Weitere Infos und Rahmenprogramm: www.projekt-else.com