Wenn Ellsworth Kelly heute auftritt, zieht er ein Wägelchen hinter sich her. Darauf liegt eine Sauerstoffflasche, ein Schlauch führt zur Nase des alten Mannes. Aber er will noch auftreten, er will sich noch zu Wort melden, er will noch in der Szene mitmischen. Kelly gehört zu den einflussreichsten Künstlern der Nachkriegszeit in den USA, ja der Welt. Heute, 31. Mai, wird er, gefeiert in zahlreichen Sonderausstellungen, 90 Jahre alt.
Wenn man im Städtchen Newburgh nördlich von New York als Sohn eines Versicherungskaufmanns aufwächst, ist das nicht gerade der Startschuss für eine große Künstlerkarriere. Doch der junge Ellsworth Kelly wollte malen, wollte sich ausdrücken und begann in New York ein Kunststudium. Unterbrochen wurde das von seinem Einsatz im Zweiten Weltkrieg in der „Ghost Army“: Mit aufblasbaren Panzern und gewaltigen Lautsprechern täuschten er und seine Kameraden der Nazi-Wehrmacht gewaltige Armeen vor, wo gar keine waren.
Der Krieg brachte ihn nach Paris, in die Stadt kehrte er bald zurück. Die sechs Jahre waren prägend, dort traf er Joan Miró, Alexander Calder, Hans Arp und andere. Aber er war nur der junge Nachwuchskünstler aus Amerika. Als er in die USA zurückwollte und seine Mutter um 400 Dollar bat – 200 für sein Ticket, 200 für seine Bilder –, schickte sie nur 200: „Lass die Bilder da!“
Das New York, in das er zurückkam, verstand sich als progressiv, war aber für den 31-Jährigen viel zu konservativ. Die Szene wurde von Jackson Pollock und dem Abstrakten Expressionismus beherrscht, in den Galerien hingen große Bilder mit wirren Kurven, gemalt, getropft, gespachtelt. Kelly antwortete mit klaren Formen, wie mit Schablone und Lineal gezogen. Keine Farbe ging, Gott bewahre!, in die andere über. Das war neu, das war anders – und keiner wollte es sehen. Die New Yorker Kunstszene sei „sehr rau“, urteilte Kelly damals. Die New Yorker Kunstszene verhalf ihm aber auch zum Durchbruch: Mit der Ausstellung „Sixteen Americans“ des renommierten Museum of Modern Art (MoMA) wurde Kelly 1959 bekannt.
Er wurde zum Hauptvertreter des Hard Edge: Das wird nicht umsonst mit „harte, scharfe Kante“ übersetzt: abstrakte Darstellungen mit klaren Linien und wenigen, unvermischten, stark akzentuierten Farben. Am besten auf weißem, zumindest einfarbigem Untergrund.
Kellys Farben sind wie aus dem Lego-Kasten: leuchtend rot, strahlend gelb, tiefblau, aber schön getrennt. Das mag unkreativ wirken. Aber die Kreativität liegt darin, daraus etwas zu machen. Und Kelly machte. Sein „Red, Yellow, Blue II“ war genau das: drei große Leinwände, eine in Rot, die zweite in Gelb, die dritte blau. Das erregte Anfang der Sechziger Aufsehen. Die Farben blieben sein Markenzeichen, ebenso wie Quadrate; kleine und große, einzeln und zu Dutzenden. Aber auch einfach Schwarz und Weiß hatte er im Repertoire.
1958 schuf Kelly seine erste Skulptur. Was er aus dem Holz schnitt, glich einem Indianer-Totempfahl – kein Zufall. Später verwendete er mehr Metall, und diese Kunst sicherte ihm einen Platz im Herzen Deutschlands: Auf dem Innenhof der US-Botschaft in Berlin steht ein Totem von ihm, zwölf Meter hoch, 15 Tonnen schwer.
Doch bekannt ist er für seine Bilder – auch wenn ihn die selbst gar nicht wichtig sind: „Der Raum, der mich interessiert, ist nicht die Leinwand, sondern der Raum zwischen dir und dem Bild.“