Niemand sagt, dass das Lesen von Romanen immer ein Genuss sein muss. Manchmal, bei missglückten Werken, ist es auch eine Zumutung. Dann kann man das Buch aber zur Seite legen und einfach zum nächsten greifen. Manchmal ist aber auch die erzählte Geschichte eine Zumutung – und der Roman viel zu gut, um ihn zuzuklappen.
„Die Nickel Boys“ von Colson Whitehead ist so ein Fall. Man würde ihm gerne entfliehen, wenn er auf 224 Seiten seinen Schrecken und seine Düsternis ausbreitet. Aber man kann es nicht. Der 49-jährige Whitehead hat mit seinem Werk „Underground Railroad“ vor zwei Jahren den amerikanischen National Book Award und den Pulitzer-Preis gewonnen. Darin schrieb er über die geheimen Netzwerke, die entlaufenen Sklaven halfen, und zeigte auf, wie tief verwurzelt der Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft ist.
Als „Underground Railroad“ auf Deutsch erschien, explodierte gerade die rechte Gewalt in Charlottesville. „Immer, wenn man über den Rassismus der Vergangenheit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart“, sagte Whitehead. Und auch sein neuer Roman, der in den 60er-Jahren beginnt, lässt sich im Grunde wieder wie ein Kommentar zur heutigen Situation lesen, in der der amerikanische Präsident vier demokratische Politikerinnen auffordert, doch dahin zurückzukehren, wo sie beziehungsweise ihre Familien herkommen – und natürlich nicht die USA meint.
So schlimm kann es hier doch gar nicht sein. Ein Irrtum
„Die Nickel Boys“: Dieser lässige Sound des Titels kann den Leser ebenso in die Irre führen wie der erste Anblick, der sich dem jungen Elwood Curtis bei der Ankunft in der sogenannten Besserungsanstalt (auch so ein trügerisches Wort) bietet. Kein Stacheldraht, keine Mauer, stattdessen ein penibel gepflegtes Anstaltsgelände mit verstreut liegenden ziegelgedeckten Häusern und üppig grünem Rasen drumherum. „Elwood hatte noch nie so ein hübsches Anwesen gesehen“, schreibt Whitehead. Also hofft er. So schlimm kann es hier doch gar nicht sein. Ein Irrtum.
Whitehead hat in seinem Roman eine wahre Begebenheit verarbeitet. Nachdem 2011 die Dozier School For Boys in Marianna, Florida, geschlossen worden war, wurden Archäologiestudenten damit beauftragt, den offiziellen Friedhof der Anstalt freizulegen. Die sterblichen Überreste sollten umgebettet werden, um das Gelände anderweitig zu nutzen. Die Studenten bargen Leichname, deren Brustkörbe voller Schrotkugeln waren, deren Knochen gebrochen und deren Schädel eingeschlagen worden waren. Und sie stießen zufällig auf einen weiteren geheimen Friedhof, als solcher nicht erkennbar, auf dem die Anstaltsleitung all die toten Jungs nach Folter einfach verscharrt hatte.
Ihr Leben, das wissen die Jungs, ist hier keinen Nickel wert
Im Roman heißt die Anstalt „Trevor Nickel School for Boys“, benannt nach dem früheren Direktor. Aber die Jungs geben dem Namen eine andere Bedeutung: Ihr Leben, wissen sie, ist hier keinen Nickel wert. Und das wissen nicht nur sie: „Nickel-Jungs waren billiger als Amüsierdamen und boten mehr für's Geld, hieß es.“ Und hier also landet der 16-jährige Elwood Curtis: Ein ungemein kluger, lernbegieriger schwarzer Junge, der streng behütet bei seiner Großmutter aufgewachsen war und es mit einem Stipendium aufs College geschafft hat. Er landet dort, weil er am ersten Tag nicht zu spät ins College kommen will und trampt – statt den Bus zu nehmen. Dabei aber steigt er zu einem Autodieb in den Wagen. Ab ins Nickel also!
Die Fallhöhe, die Whitehead seinem Helden und damit den Lesern zumutet, ist gewaltig. Vom Traum direkt in den Albtraum. Weiße und schwarze Jungs sind im Nickel natürlich separiert, auch in der Besserungsanstalt legt man Wert auf Rassentrennung. Auch die Wunden sehen anders aus. Wenn nachts das Dröhnen eines Industrie-Ventilators erklingt, wissen sie im Schlafsaal, was gleich passiert: Man soll die Schreie der Jugendlichen nicht hören, wenn der Lederriemen auf sie niederknallt. Der ein Meter lange Riemen heißt in der Anstalt „Black Beauty“, den Ort der Tortur nennen die weißen Jungs die „Eiscreme-Fabrik“, weil man ihn mit „schillernd bunten Blessuren“ verlässt.
Aber die schwarzen Jungs verschwinden oft für immer. Und sie verwenden dafür eine Bezeichnung, die für sie grauenschwer wiegt: „Im Weißen Haus wurde das Gesetz vollzogen.“ Bald schon wird Elwood abgeholt, es wird noch schlimmer kommen. Colson Whitehead lässt einen nicht aus: Er schildert den Horror nicht im Detail, sondern zieht die Decke, die das Grauen in seinem ganzen Ausmaß verbirgt, nur ein wenig zur Seite. Es reicht.
Whitehead hält den Leser gefangen in diesem Horror von Rassismus, Sadismus und Willkür
Whitehead erlaubt sich keine Sentimentalität, er erzählt mit großer sprachlicher Kraft, aber nüchtern – er muss zu dieser Geschichte nichts hinzugeben, keine weitere Emotion. Sie nur zu Literatur verdichten, entlang seines Helden erzählen, der an eine bessere Welt glaubt – und irrsinnigerweise daran, das System zu Fall bringen zu können. Und so hält er den Leser gefangen in diesem Horror von Rassismus, Sadismus und willkürlicher institutioneller Gewalt an Schutzbefohlenen. „Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger“, so beginnt dieser Roman und der Leser weiß schon in diesem Moment, was der junge Elwood noch nicht ahnt. Das Schlimmste, schreibt Whitehead, was Elwood je erlebt hatte, geschah täglich. „Er erwachte in diesem Loch.“
Im April 2019 wurden auf dem ehemaligen Anstaltsgelände der Dozier School weitere 27 mutmaßliche Gräber entdeckt. Jahrzehntelang hatte sich für die Horrorgeschichten, die man sich über die Anstalt erzählte, niemand interessiert. Und niemand für die zerstörten Leben. Nun aber erzählt davon dieser Roman, der es unbedingt wert ist, ihn sich zumuten.
Colson Whitehead: Die Nickel Boys. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Hanser Verlag, 224 Seiten, 23 Euro