Menschenfresser! Die Angst vor diesen Ungeheuern verfolgt den Menschen seit Tausenden von Jahren. Die alten Griechen glaubten, dass am Rand der Erdscheibe das Volk der Anthropophagoi (das griechische Wort für Menschenfresser) wohne. Im fünften Jahrhundert vor Christus berichtete Herodot in seinen „Historien“ von den Kallatiern. Die seien ein indisches Volk, bei dem die Leichen der Eltern aufgegessen würden. Im 13. Jahrhundert soll, laut Alexander von Humboldt (1769 bis 1859), in Ägypten gewohnheitsmäßig Menschenfleisch verspeist worden sein: „Es kamen verschiedene Zubereitungsarten des Fleisches auf, und da der Brauch einmal bestand, verbreitete er sich auch über die Provinzen, so dass aller Orten in Egypten Fälle vorkamen.“ In der Neuzeit nahm 1991 „Das Schweigen der Lämmer“ das grauenhafte Motiv auf . . .
Die Welt ist keine Scheibe, hat also auch keinen Rand, an dem geheimnisvolle Menschenfresser hausen könnten. Herodots sogenannte Historien sind von Legenden und Gerüchten durchsetzt, Humboldt berichtete über Vorgänge, die Jahrhunderte zurücklagen und die er nur vom Hörensagen kannte. Und „Das Schweigen der Lämmer“ ist bloß ein Film, der mit der Faszination des Grauens Kasse gemacht hat.
Die Furcht vor Fremdem
Es gibt Wissenschaftler, die glauben, menschenfressende Völker habe es nie gegeben. Sie könnten eine Projektion der Furcht vor Fremdem sein, eine Abgrenzung der sogenannten Zivilisation vor den sogenannten Wilden. Laut Online-Lexikon Wikipedia gibt es aber archäologische Belege für Anthropophagie. In den Köpfen der Menschen existiert Menschenfresserei jedenfalls als eine Art Ur-Angst. Die könnte – wie ein archäologischer Befund – auch ein Hinweis auf tatsächliche Vorgänge oder Rituale in der Vorzeit sein.
Was im kollektiven Gedächtnis verankert ist, breche sich häufig Bahn in Mythen, Legenden und Märchen, sagt Jasmin Beer. Die Volkskundlerin, in Volkach mit dem Lutz-Röhrich-Preis der Märchenstiftung Walter Kahn ausgezeichnet (wir berichteten), hat sich wissenschaftlich mit Menschenfresserei, einer dunklen Seiten des Märchens, auseinandergesetzt.
Ihr Schwerpunkt lag auf der Sammlung der Brüder Grimm. Die prominenteste Menschenfresserin der „Kinder- und Hausmärchen“ ist die Hexe in „Hänsel und Gretel“. Einen Fall von Anthropophagie fand die junge Jenaer Wissenschaftlerin aber auch in „Schneewittchen“. Bekanntlich gibt es da die Königin, „stolz und übermütig“, die von ihrem Spiegel erfahren muss, dass Stieftochter Schneewittchen „tausendmal schöner“ ist als sie. „Und der Neid und der Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher.“ Die Königin beauftragt einen Jäger, Schneewittchen im Wald zu ermorden und ihr Lunge und Leber zu bringen. Doch der Jäger lässt das Mädchen am Leben und serviert der Königin Lunge und Leber eines Frischlings. In der Schlossküche werden die Innereien „in Salz“ gekocht. Die boshafte Königin isst sie auf – im Glauben, „sie hätte Schneewittchens Lunge und Leber gegessen“.
Da steckt uralter Volksglaube dahinter. Dem zufolge sind „Leber und Lunge jene Organe, in denen das Leben und die Jugend sitzen“, erklärt Jasmin Beer. Durch die barbarische Mahlzeit soll Schneewittchens Schönheit auf die Königin übergehen. Es geht also nicht darum, den Hunger zu stillen. Die Anthropophagie hat rituellen Charakter. Die Übertragung von Eigenschaften des Opfers durch Einverleibung wurde in verschiedenen Kulturen wohl tatsächlich praktiziert. Die Anthropophagie in „Schneewittchen“ könnte also einen wahren Kern haben.
Wie Historie sich zu Legende oder Märchen auswachsen kann, zeigt die Geschichte von Elisabeth Báthory. Die ungarische Gräfin (1560 bis 1614) war „sadistisch und lebte ihre Grausamkeit an jungen Mädchen aus“, weiß Jasmin Beer. Die Gräfin wurde wegen vierfachen Mordes an jungen Frauen angeklagt. Schon wenige Jahre nach ihrem Tod verbreitete sich die Legende, sie habe im Blut der Mädchen gebadet, um sich zu verjüngen. Noch später hieß es, sie habe das Blut getrunken. Die Legende von der „Blutgräfin“ war geboren. Sie wirkt bis heute nach, wurde mehrfach verfilmt, zuletzt 2011 mit Tilda Swinton als Gräfin.
Ein derart gerader Weg führt selten vom historischen Ereignis zum Märchenstoff. Die Entstehung der Grimm'schen Erzählungen ist deutlich komplizierter. Die Hanauer Brüder mussten Fragmente zusammensetzen und mit verschiedenen Versionen derselben Geschichte, die sich auch durch Jahrhunderte der mündlichen Überlieferung ergaben, fertig werden. Schon dabei geht einiges von der etwa noch vorhandenen Ursprünglichkeit verloren. Zudem haben Jacob und Wilhelm immer wieder kräftig in die Texte eingegriffen – und damit Vorlagen verändert, Ursprüngliches verwässert. „Sie haben zum Beispiel in manchen Erzählungen den Wald hinzugedichtet“, erklärt Jasmin Beer. Eine reine Überlieferung aus dem Volk sind die Kinder- und Hausmärchen sicher nicht.
Mit Klugheit gegen die Angst
Sollten tatsächlich reale Anthropophagie-Praktiken ihre Spuren in Märchen hinterlassen haben – den Menschenfressern wurde gründlich der Zahn gezogen: Sie sind generell erfolglos. Die „Schneewittchen“-Königin isst bloß Schweinefleisch, und die böse Hexe wird im eigenen Ofen verheizt. Selbst wenn der Menschenfresser ein leibhaftiger Riese ist, wie in „Der Trommler“, ist er der Verlierer: Der Trommler behauptet frech, ihm folge eine Armee von Tausenden nach – und der Riese gibt klein bei. „Menschenfresser im Märchen sind übermächtige, brutale Wesen, die sich manchmal dunkler Künste bedienen. Aber sie sind nicht sehr schlau“, erklärt Jasmin Beer. „Der Held wird mit der größtmöglichen Gefahr konfrontiert – und siegt mit Köpfchen.“
Indirekt wird der Menschenfresser also sogar zum Mutmacher und zeigt – ebenso indirekt –, dass Klugheit auch gegen Angst vor Fremdem hilft.