
Wie viele Stunden die 36-jährige Sopranistin Christiane Karg einst im elterlichen Caféhaus zugebracht hat, ist ungewiss. Sicher ist, dass ein Caféhaus viel Arbeit macht, auch und vor allem am Wochenende, und wenig Raum lässt für Freizeit und Privatleben. Auch deshalb kommt die Mittelfränkin, die längst auf den Bühnen der Welt und dieses Jahr als „Artiste étoile“ beim Mozartfest gastiert, gut mit den Zumutungen ihres reiselastigen Berufs zurecht: „keine Ferien, kein Weihnachten, kein richtiges Zuhause.“
Im Künstlergespräch mit Johannes Bultmann präsentierte sich Karg beim Mozartlabor im Würzburger Exerzitienhaus Himmelspforten als unterhaltsame, reflektierte Erzählerin: „Ich kann nur schlecht die zweite Geige spielen. Wäre ich im Opernchor gelandet, wäre ich immer unzufrieden gewesen.“ Ohne allzu privat zu werden, geizte sie nicht mit Persönlichem – über ihren musikliebenden Vater, ihre Kindheit im Kirchenchor von Feuchtwangen, ihren Gesangsunterricht in Dinkelsbühl und erste Engagements bei Hochzeiten und Beerdigungen. Kargs Wille zum Erfolg wurde dabei ebenso deutlich wie ihr Pragmatismus: „Damals dachte ich: Ich mache die Aufnahmeprüfung kein zweites Mal.
Wenn es nicht gleich klappt, bin ich eben nicht gut genug. Dann studiere ich Fremdsprachen oder eröffne ein Hotel.“
Die richtige Stimmpflege? „Nicht zu viel drüber nachdenken. Und wenig Alkohol trinken.“ Ebenso undogmatisch gab sich Christiane Karg, was das Mozartsingen betrifft. Da sei sie offen für viele Stile: „Die eine Wahrheit gibt es nicht.“ Allerdings werde sie des Musikbetriebs gerade etwas müde. Oha, ein neuer Tonfall? „Du musst lernen, ,Nein‘ zu sagen, und bei deiner Stimme bleiben. Du hast die alleinige Verantwortung. Am Ende nimmt keiner Rücksicht auf dich. Veranstalter und Agenten lassen dich fallen, Publikum und Kritiker sind gnadenlos.“
In der folgenden Diskussion über den aktuellen Opernbetrieb („Mozart und seine Sänger: Zwischen klassischem Ideal und lebendiger Praxis“, moderiert von Hansjörg Ewert) sprach Karg nachsichtig und diplomatisch. Lediglich bei schlecht vorbereiteten Regisseuren werde sie aggressiv und nehme das Heft gern selbst in die Hand. Ihr 32-jähriger Tenorkollege Julian Prégardien fand da deutlichere Worte hinsichtlich überkommener Machtstrukturen. Und, liebe Frau Karg, ihr Draht zum lieben Gott? Ja, den gebe es. Schließlich sei das Caféhaus der Eltern im Kreuzgang eines Feuchtwanger Klosters untergebracht.
Bei der Liedmatinee im ausverkauften Fürstensaal der Würzburger Residenz gab sich die wache, reif und doch jugendlich frisch wirkende Sängerin dann ihrer Sache leidenschaftlich hin. Mit Andreas Staier am Hammerflügel sang sie eine gute Stunde Mozart, Haydn, Schubert und Mendelssohn – und entließ ihr Publikum bereichert und verzaubert. Der sahnige Schmelz ihres straffen, blühenden Soprans stand dabei nicht nur Mozart gut zu Gesicht.
Obwohl das Duo erstmals zusammen auftrat, erlebte man hier ein perfekt ausgereiftes Miteinander, gelangen selbst abrupte Stimmungswechsel in blindem Einverständnis. Gleich zu Beginn drei deutsche Mozartlieder über Wunder und Weh der Liebe: „Der Zauberer“ wurde zu einem differenzierten Minidrama – textverständlich, humorvoll, tiefgründig –, jedes einzelne Klavier-Zwischenspiel in „Das Veilchen“ zu einem suggestiven Teil der Liederzählung. Dunkle, dramatische Stimmfülle entfaltete Karg in den französischsprachigen Mozartliedern „Oiseuy, si tous les ans“ und „Dans un bois solitaire“.
Die Sprache beeinflusse den Stimmklang maßgeblich, so Karg später im Mozartlabor. Voll leiser Inbrunst, fast wie durch Watte, tönte Felix Mendelssohn Bartholdys intimer „Gruß“; in dessen „Das erste Veilchen“ demonstrierte Karg, dass ein einziger Schlusston ein ganzes kleines Leben durcheilen kann.
In Franz Schuberts Impromptu c-Moll D 899/1 überraschte Andreas Staier mit einer unerhört individuellen, zwingend logischen Interpretation, mit der er das Stück unter völlig neue Vorzeichen setzte – etwa, indem er das einstimmige Anfangsthema ganz ins rechte Pedal nahm (was die Dämpfer von den Saiten abhebt und so einen sphärischen Nachhall erzeugt) oder Glocken schlagen ließ, die man bislang überhört hatte. Feurig und leichtfüßig ging der Pianist voran, erzeugte Dramatik durch immense innere Spannung. Feinnervig begleitete Staier auch Joseph Haydns bewegten Klagemonolog „Ariadne auf Naxos“, der die schmerzhafte Trennung von einem geliebten Menschen (hier Theseus) beleuchtet, der sich wortlos aus dem Staub gemacht hat. Unter den Qualen der Ungewissheit ließ sich Karg als Ariadne von extremen Gefühlen beuteln: Resignation, Verzweiflung, Trauer, Wut und jäh aufkeimende Hoffnung.
Ein ergreifendes Lamento ohne Happy End, das die Hörerschaft sprachlos zurückließ. Als klug gewählte Zugabe danach Mendelssohns „Entsagung“: „Herr, zu Dir will ich mich retten, wenn die Welt mich kränkt und schlägt.“