(S.P.) Viele Jahre war der Dresdner Hauptbahnhof, „dieser dunkle Schildkrötenbau am Ende der Prager Straße“, für den jungen Durs Grünbein (53) ein Symbol der Verheißung: „Damals begann ich davon zu träumen, die Stadt zu verlassen, das Land, diese ganze, in sich kreisende, vor sich hin dämmernde Geisterbahnwelt. Erwachend stellte ich mir vor, auf einen Zug aufzuspringen und die Irrealität dieses real existierenden Sozialismus gegen irgendein Jenseits zu tauschen – gern auch für immer.“ Aber zunächst blieb es Verheißung und Traum.
Erst viel später, nach dem Fall der Mauer, holte Grünbein das Versäumte in einer übersteigerten Form des „beinahe hysterischen Reisens“ nach. Dresden und seine Gartenstadt Hellerau waren nur noch der Bodensatz der Erinnerung an eine ferne Kindheit. In seinem Buch „Die Jahre im Zoo“ lässt Grünbein seine Kindheit in der DDR auf wunderbare Weise wiederauferstehen und setzt gleichzeitig der Gartenkolonie Hellerau ein Denkmal.
Als Kaleidoskop bezeichnet der Dichter sein Erinnerungsbuch an eine entschwundene Zeit. Anstelle einer linearen Erzählung tauchen Erinnerungssplitter auf und verschwinden wieder, Prosapassagen wechseln mit Gedichten und alten Schwarz-Weiß-Fotos ab, all das verbindet sich zu einem stimmigen Ganzen. Eine Jugend in Hellerau, jenem Utopia, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts Künstler, Reformpädagogen und Architekten ein neues Lebensmodell erprobten. Auch Schriftsteller hinterließen ihre Spuren. Franz Kafka machte dort am offenen Fenster seine Turnübungen, Gottfried Benn schaute während des Fronturlaubs in Hellerau bei seiner Familie vorbei.
Zu DDR-Zeiten war der Lack des Besonderen allerdings längst ab. Als Grünbein 1968 mit seinen noch jugendlichen Eltern dorthin zieht, erscheint dieses Fleckchen Erde der kleinen Familie dennoch wie das Paradies: „Der Umzug war ein neuer Lebensbeginn. Etwas von Auswanderung war mit im Spiel.“ Es ist eine Jugend, die sich vor allem im Freien abspielte, in Brachlandschaften, in Sanddünen und Gärten, nicht zuletzt beim wilden Indianerspiel.
Indianerromantik
Schließlich stand nirgendwo die fernwehsüchtige Wildwest- und Indianerromantik so hoch im Kurs wie in dem abgeschotteten kleinen Staat, der Grünbeins Heimat war. Früh erwies sich der Junge aber auch als Einzelgänger, der seine Rückzugsräume suchte, die Einsamkeit schätzte und seine ersten Gedichte schrieb.
Die Erinnerungen enthalten anrührende Menschenporträts, etwa der beiden Großväter. Der eine übte den Beruf des Metzgers aus, „ein Meister im Fellabziehen, niemand schlägt ihn in dieser Disziplin“. Er war ein großer Schweiger. Dafür machte er mit ihm ausgedehnte Spaziergänge zum Elbhafen, und all seine Zärtlichkeit für den Jungen kulminierte in der lapidaren Anrede „Mein Freund“. Ein einfacher Mann, der seine Würde zu wahren wusste und sein Leben lang „klassen- und rassenkampfresistent“ blieb.
Der andere Großvater lebte in Gotha, war ein gebrochener Kriegsheimkehrer, der sich als Schmuggler durchschlug und noch spät das Küferhandwerk erlernte. Doch der vom Leben gebeutelte Mann hatte eine geniale Leidenschaft: Er erfand Kreuzworträtsel. Und so infizierte er den Jungen mit der Sammelleidenschaft für Wörter und zog ihn hinein in das „ungeheure Neuland der Imagination“. „Die Jahre im Zoo“ waren für den Dichter beides: Eine Kindheit in einer kriegsversehrten Stadt in einer umzäunten, begrenzten Welt, aber auch eine Zeit voller Träume, Sehnsüchte, Fantasie.
Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop (Suhrkamp, 400 Seiten, 24,95 Euro)