
Eine Dystopie, also ein Gegenbild zu einer positiven Utopie, auf die Bühne zu bringen – ein schwieriges Unterfangen. Noch dazu, wenn man zwei Welten auf engstem Raum zusammendrängen muss, wie in Sandra Lavas Inszenierung des Science-Fiction-Thrillers „Die Netzwelt“ der amerikanischen Autorin Jennifer Haley, aufgeführt im Theater Schloss Maßbach.
Wir sehen in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der das heutige Internet abgelöst worden ist durch perfekt digitalisierte virtuelle Welten, durch die sich die Nutzer in selbst gewählten Simulationsgestalten bewegen können, als seien sie in der dreidimensionalen Realwelt. Der amerikanische Fantasyautor Tad Williams hat diese Parallelwelten bereits vor 20 Jahren in seiner „Otherland“-Tetralogie erschreckend realistisch heraufbeschworen.
Wenn pädophile Neigungen hemmungslos werden
Jennifer Haley beschränkt sich auf eine Welt namens „Refugium“, die ein Geschäftsmann (Ingo Pfeiffer) erschuf, um Profit zu machen und gleichzeitig seinen pädophilen Neigungen Herr zu werden, die er und gleichgesinnte Besucher hemmungslos und ohne jede Konsequenz an einer Simulation in Gestalt eines jungen Mädchens (Tonia Fechter) ausleben können.

Der Plot der Geschichte ist, dass eine Ermittlerin (Silvia Steger) aus der ökologisch völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Realwelt dem verbotenen Treiben auf die Spur kommt und einen Spion (Georg Schmiechen) in die Domäne einschleust, um Beweise zu sichern. Parallel dazu finden in der Realwelt Verhöre mit dem Netzbetreiber und einem Kunden (Marc Marchand) statt, der gänzlich als Schatten in der virtuellen Realität verschwinden will, weil er dort die wahre Liebe zu finden glaubt.
Bühnenbild ist nüchtern, Videoinstallation genial
Wie, um Pixels Willen, wollen die Maßbacher diese zwar auf eine Teilwelt beschränkte, aber dennoch komplexe Story für die Zuschauer nachvollziehbar realisieren? Zuerst einmal mit einem praktikablen, absolut nüchternen Bühnenbild und einer genialen Videoinstallation von Robert Pflanz und mit Sphärenklängen von Jochen Schneider. Die Kulisse besteht aus verschiebbaren Wandelementen aus hellem Nähpapier, der Hintergrund aus einer Bildschirmleinwand, auf der, zeitgleich eingespielt, blumige Szenen aus dem Refugium erscheinen, durch das sich auch die Simulationsgestalten bewegen.
Da allerdings die Bühne sowohl für die Realwelt als auch für virtuelle Szenen gebraucht wird, müssen die Zuschauer die Handlungsorte selbst sortieren. Das ist manchmal mühsam, weil der obskure Netzbetreiber drinnen wie draußen dieselbe Kleidung trägt (zukunftswürdige Kostüme: Daniela Zepper).
Bisweilen mehr Leidenschaft wünschenswert
Am glaubwürdigsten agieren Marc Marchand als vom Leben frustrierter Wissenschaftler, Tonia Fechter als virtuelle Gestalt und Georg Schmiechen als Spion (wie wir später erfahren: ebenfalls eine Simulation). So, wie die Regisseurin die Rollen des Geschäftsmanns und der Ermittlerin konzipiert hat, müssen Ingo Pfeiffer und Silvia Steger ihre Dialoge in steifer Kleidung über weite Strecken zu rational halten, um lebensnah zu wirken. Ihre ins Korsett der Stereotype von gefühlskalter und uniformer Zukunft gepresste Emotionalität bricht leider erst gegen Ende hervor. Da hätte man sich mehr Leidenschaft und weniger vorgefasste Reden gewünscht.
Davon abgesehen aber weckt die spannend dramatisierte Geschichte Albträume, die sich bald als wahr erweisen könnten. Auf der einen Seite ermöglicht eine perfekt programmierte virtuelle Parallelwelt die Existenz von Nischen für Darknets, also Unterwelten mit der Lizenz, jegliches pervertierte Verhalten hemmungslos auszuleben. Und auf der anderen Seite stehen überforderte Kontrollinstanzen. Kommt einem bereits heute irgendwie bekannt vor.
Vorstellungen im Intimen Theater und auf Gastspielreisen bis 21. April. Infos und Karten über Tel. (0 97 35) 235. www.theater-massbach.de