Wie es der Zufall will, erscheint dieser Tage bei uns Salman Rushdies brillanter neuer Roman „Quichotte“. Er bestätigt eindringlich, was wir nach der Meininger Premiere von Dale Wassermans/Mitch Leighs Musical „Der Mann von La Mancha“ bereits ahnen: Cervantes' Jahrhundertklassiker ist aktuell wie eh und je. Es fehlen nach wie vor zuhauf Ritter von der traurigen Gestalt, die ihre Träume und Fantasien von Gerechtigkeit und Menschenliebe leben, selbst wenn sie immer wieder Windmühlenflügel mit den Schwertern des bösen großen Magiers verwechseln.
Natürlich ist das Musical, das seit 1965 erfolgreich durch die Welt tourt, eine komprimierte und attraktivierte Fassung des Stoffes, mit all den Stereotypen, atmosphärischen und rhetorischen Spielereien und Gefühligkeiten, die es braucht, um die Gemüter des Publikums angenehm zu kitzeln. Das geschieht in der Inszenierung von Kurt Josef Schildknecht („Evita“) ausgezeichnet. In dichter Dramaturgie wird ohne Pause eindreiviertel Stunden gespielt. Um sein Manuskript zu retten, erzählt der Dichter Cervantes – der gerade mit seinem Diener ins Gefängnis geworfen wurde – dem bedrohlichen Haufen von Mithäftlingen vom tapferen Kampf seines Romanhelden Don Quijote und dessen Begleiter Sancho Pansa. Und während er erzählt, verwandelt sich der Gefängnissaal in die Orte der Geschichte.
Mehrstöckige Zellenwände und ein martialisches Gittergeflecht von Helge Ullmann (auch Kostüme), die Musik der Meininger Hofkapelle mit Ludwig Pflanz am Pult, der Chor unter Leitung von André Weiss und Manuel Bethe, die Choreografie von Julia Grunwald und Videoeinspielungen von Jae-Pyung Park, Schauspieler und Sänger – alles verbündet sich zu einem harmonischen Ganzen, das die Schrecken der Realität nicht ausblendet. Michael Jeske – obwohl nicht gerade der Prototyp des hageren Ritters – gibt einen allzeit glaubwürdigen, leidenschaftlichen Don Quijote, Renatus Scheibe einen quirligen Sancho Pansa und Marianne Schechtel eine widerspenstige und vom Leben gezeichnete Magd Aldonza/Dulcinea. Um sie herum agiert, meist in orangefarbener Gefängniskluft, ein spielfreudiges Ensemble mit Mikko Järviluoto (Wirt), Stan Meus (Padre), Sven Zinkan (Doktor Carrasco) und vielen anderen. Nicht zu vergessen Rosinante und Rucio, Pferd und Esel der unerschütterlichen Weltenretter.
„Vom Leben gezeichnet“ - das ist eine Zuschreibung, aus der sich die Entwicklung der Charaktere speist. Don Quijotes wahnhafte Fantasien sind – wie Cervantes' Leben selbst – Frucht unermesslicher Erfahrung von Leid in Krieg und Not und des Versuchs, den Schmerz mit den alten Ritterspektakeln zu versöhnen, die wirr durch Don Quijotes Kopf geistern.
Die Hoffnung seit Cervantes' Tagen: Um eines lebenswerten Lebens willen das zu tun, was vor einigen Jahrzehnten der anarchistische Filmemacher Herbert Achternbusch auf den Punkt gebracht hat: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Oder, wie es Don Quijote auszudrücken pflegt: „Vielleicht ist es Wahnsinn, sich Träumen hinzugeben und nach Schätzen zu suchen, wo nur Schutt ist. Aber vielleicht ist es auch Wahnsinn, normal zu sein. Aber ganz gewiss ist es der allergrößte Wahnsinn: Das Leben so zu sehen, wie es ist, und nicht so, wie es sein sollte.“
Die Inszenierung versucht uns diese weise Überlebensstrategie ins Herz zu pflanzen. Aber wir ahnen bereits: Meiningen am Morgen danach wird nicht von Rittern und Dulcineen von der traurigen Gestalt bevölkert sein. Jedenfalls nicht auf öffentlichen Plätzen. Aber vielleicht könnte die Lektüre von Salman Rushdies neuem Roman den einen oder die andere von uns, dazu animieren, sich ein krummes Holzschwert zu basteln, eine alte Rasierschüssel auf den Kopf zu setzen und couragiert hinaus ins Leben zu schreiten.
Nächste Vorstellungen: 16.10., 19.30 Uhr, 20.10., 19 Uhr, 1. und 9.11., 19.30 Uhr. Kartentelefon: (03693) 451 222. www.meininger-staatstheater.de