Dieter Wellershoff hat kein Internet. Dafür hat er Bücher. In so ziemlich jedem Raum seiner Kölner Altbauwohnung stapeln sie sich bis unter die Decke. Zusammen bilden sie ein Archiv seiner Erinnerungen. Es reicht weit zurück, denn am heutigen Dienstag (3. November) wird der Schriftsteller 90 Jahre alt.
Wellershoff schreibt seit 60 Jahren. 1956 kam sein erstes Hörspiel heraus, 1966 der erste Roman, „Ein schöner Tag“. Es folgten 40 Romane, Novellen, Theaterstücke, Drehbücher und Essaybände. Von der Kritik fast einhellig gelobt, ließ der große Durchbruch beim Publikum lange auf sich warten: Erst sein Roman „Der Liebeswunsch“ wurde im Jahr 2000 zum Auflagenerfolg und später auch fürs Kino verfilmt.
Wellershoff ist nicht nur ein Erzähler, sondern auch ein Essayist von Rang. Er hat die Bundesrepublik seit ihren frühesten Tagen als differenzierter Beobachter begleitet. Über den Band „Angesichts der Gegenwart“ schrieb ein FAZ-Rezensent einmal: „Dieses Buch verwirrt durch den Mangel an Irrtümern.“ Unkenrufe und Polemik sind ebenso wenig Sache von Wellershoff wie wohlfeile Ratschläge an die Politik. Mit seinen Schlussfolgerungen hat er aber oft richtig gelegen.
„Jetzt ist es natürlich so interessant, dass man ständig Nachrichten schaut“, sagt er. „Frau Merkel wird wohl bald den Platz räumen. Alle gesellschaftlichen Bereiche sind belastet und geraten unter Druck.“ Dafür werde man die Kanzlerin verantwortlich machen, glaubt er.
Der hagere alte Mann mit dem mittlerweile gebeugten Rücken hat das Gefühl, „in einem anderen Zeitalter angekommen“ zu sein. So etwas wie den plötzlichen Zuzug von einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis habe es noch nie gegeben. Aber auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet sieht er den Anbruch einer neuen Zeit: „Man hat die Möglichkeit, an die Erbsubstanz ranzukommen. Was da alles noch kommen wird, das kann man gar nicht beurteilen.“ So wandert Wellershoff durch die Epochen und wundert sich.
Mitunter, so sagt er, kann er kaum glauben, dass er das alles noch erlebt. Denn als Soldat – er meldete sich mit 17 Jahren freiwillig – wäre sein Leben schon 1944 um ein Haar zuende gewesen. Damals wurde er verwundet und verbrachte mehrere Monate im Lazarett. „Es ist so unwahrscheinlich, dass ich das überstanden habe. Ich habe so viele Tote, so viele Sterbende gesehen.“ Dieter Wellershoff ist immer ein nachdenklicher Mensch gewesen, und jetzt, im hohen Alter, ist er es in noch stärkerem Maße.
Wo andere Autoren sprudeln und von ihrem neuesten Werk oder ehrgeizigen Plänen erzählen, verweist er nur auf seinen mit einer Schutzhülle abgedeckten Computer. Er habe wieder angefangen, mit der Hand zu schreiben, sagt er. „Aber im Moment hab ich nichts in der Mache.“ Dafür ist etwas fertig: ein Sammelband mit Erzählungen seit 1973. Titel: „Im Dickicht des Lebens“. „Eigentlich mein Lebensthema“, sagt er.