
- Was ist das für ein Stück? "Die tote Stadt" ist eine Oper von Erich Wolfgang Korngold, die 1920 uraufgeführt wurde. Unter Fans der Spätromantik ist sie heißbegehrt, weil sie dank einer mörderisch schweren Tenor-Partie selten aufgeführt wird.
- Worum geht es? Paul kommt nicht über den Tod seiner Frau Marie hinweg. Da begegnet er Marietta, die Marie aufs Haar gleicht. Doch wie sich herausstellt, ist Marietta ganz anders als Marie. Eine Katastrophe bahnt sich an.
- Lohnt der Besuch? Unbedingt. Dem Staatstheater Meiningen ist eine musikalisch wie szenisch packende Produktion eines Stücks gelungen, das sonst meist nur die ganz großen Häuser stemmen können.
Dass das nicht gutgehen kann, ist völlig klar: Paul versinkt seit Jahren immer tiefer in der Trauer um seine tote, längst zur Heiligen verklärte Frau Marie. Da begegnet ihm die lebenslustige Tänzerin Marietta, die Marie aufs Haar gleicht. Paul, zerrissen von Schuldgefühlen und Wutanfällen, versucht, in Marietta Marie wiederzufinden, wogegen sich Marietta naturgemäß auflehnt.
Das ist der Stoff, aus dem Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) seine 1920 uraufgeführte Oper "Die tote Stadt" machte. Vorbild war der Roman "Bruges-la-Morte" (Das tote Brügge) von Georges Rodenbach. Brügge, heute von Touristen überrannt, galt damals als lebloses, in seiner historischen Substanz eingefrorenes Pflaster. Es blieb Korngolds bekannteste Oper, der junge Komponist floh vor den Nazis in die USA, wo er als Pionier der sinfonischen Filmmusik ("Robin Hood, König der Vagabunden", "Herr der sieben Meere") Furore machte und zwei Oscars gewann.
Die mal hochdramatische, mal hinreißend lyrische
spätromantische Musik sorgt für direktestmögliche Emotion
Wolf Gutjahr hat für die Meininger Neuproduktion - der ersten dieses Stücks hier überhaupt - eine Konstruktion aus hochaufragenden schwarzen Wänden auf die Drehbühne gestellt, die nahezu dauernd in Bewegung ist. Die Wände ergeben bei voller Umdrehung nacheinander die Buchstaben M, A, R, I und E, die Räume dazwischen stehen für Pauls Seelenleben.

Viel mehr an Symbolen muss man in Jochen Biganzolis Inszenierung aber nicht verstehen. Denn die mal hochdramatische, mal hinreißend lyrische spätromantische Musik voller Anklänge an Wagner, Mahler und Strauss sorgt für direktestmögliche Emotion. Chin-Chao Lin dirigiert eine bestens vorbereitete, gewohnt zupackende, diesmal aber auch auffällig sensibel musizierende Hofkapelle. Das wird schon im vorangestellten dritten Satz von Korngolds Symphonischer Serenade op. 39 deutlich, zu der ein Video von Jana Schatz die Vorgeschichte von Pauls Unglück erzählt. Ein überzeugender Kunstgriff.
Regisseur Jochen Biganzoli macht die Marie, deren Stimme
sonst nur hinter einem Bild hervorklingt, zur echten Figur
Biganzoli setzt ansonsten auf die Spielfreude von Chor, Kinderchor und Solistenensemble, um eine Welt voll greller, überdrehter Reize darzustellen (hier kündigen sich die feierwütigen Zwanziger an), die unübersehbar den Keim des Untergangs in sich trägt. Wie eben auch die Beziehung zwischen Paul und Marietta. Und Marie. Biganzoli macht die Marie, deren Stimme sonst nur hinter einem Bild hervorklingt, zur echten Figur. Auch das vollkommen schlüssig: Die Beziehung zweier Lebenden und einer Toten ist von Anfang an eine Dreierkiste.

Und es ist eine sängerisch großartige Dreierkiste: Charles Workman als Gast meistert die mörderische Tenorpartie, die bis zuletzt höchste Höhen verlangt, mit der ganzen Erfahrung einer langen Karriere, was ihm vor allem Raum für packende schauspielerische Intensität gibt. Lena Kutzner und Deniz Yetim wechseln einander als Marietta und Marie ab. In der Premiere gab Lena Kutzner eine flatterhaft vitale Marietta und Deniz Yetim eine bedrohlich präsente und doch spukhaft entrückte Marie.
Dass die Beziehung zwischen Paul und Marietta mit einem Mord endet, und dass sich diese Katastrophe dann aber als Traum Pauls entpuppt, kann verraten werden. Nicht aber, welch dunkle Pointe Biganzoli und Filmerin Jana Schatz noch hinzugefügt haben. Man muss sie nicht gutheißen, aber den musikalischen und szenischen Weg dahin zu erleben, ist unbedingt eine Reise nach Meiningen wert.
Weitere Vorstellungen: 18., 21. September, 28. Oktober, 19. November, 15. Dezember, 15. Januar. Karten: Tel. (03693) 451 222. www.staatstheater-meiningen.de