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SCHWÄBISCH HALL
Die Struwwelpeter-Rebellion
Pfui!? Die antiautoritären Achtundsechziger wetterten gegen den Struwwelpeter. Dabei hätte der einer von ihnen sein können, ebenso wie sein Erfinder Heinrich Hoffmann. Wilhelm Busch passt auch dazu.
Ralph Heringlehner
Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:58 Uhr

Pfui! ruft da ein jeder: Garst'ger Struwwelpeter!“ Pädagogen gingen auf die Barrikaden. Ein Skandal, dieses Buch! Dieser „Struwwelpeter“, den der Frankfurter Kinder- und Nervenarzt Heinrich Hoffmann (1809 bis 1894) erfunden hatte! So etwas kann man Kindern doch nicht zeigen – pfui! „Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes“, schimpfte ein Hoffmann-Zeitgenosse. Der „Struwwelpeter“, 1845 in Erstauflage erschienen, war aber auch so ganz anders als die idealisierenden Bilderbücher mit niedlichen Geschichten, die in der Biedermeierzeit üblich waren . . .

„Pfui“ riefen gut 120 Jahre später wieder Pädagogen. Die Achtundsechziger verdammten die „Drolligen Geschichten und lustigen Bilder“, die Hoffmann zunächst nur für den eigenen Sohn gereimt und (anfangs eher unbeholfen) gezeichnet hatte. Von wegen drollig: Ein Musterbeispiel für „Schwarze Pädagogik“ sei das Buch, monierten die Freunde antiautoritärer Erziehung Ende der 1960er/Anfang der 70er Jahre. Heinrich Hoffmann wolle mit Gewalt und Angstmacherei den Eigensinn von Kindern brechen, hieß es.

Tatsächlich sind die Geschichten – jedenfalls auf den ersten Blick – grausam. Dem Daumenlutscher Konrad werden blutig die Daumen abgeschnitten; Paulinchen spielt gegen ausdrückliches Verbot mit dem Feuer und verbrennt („Ein Häufchen Asche blieb allein“); der Suppen-Kaspar hungert sich zu Tode. Tatsächlich können Struwwelpeter und seine gezeichneten Genossen bei sehr sensiblen Kindern Ängste auslösen.

Dicke Luft in der Familie

Doch das ist nur die eine Seite. Denn unter dem Deckmantel der „drolligen Geschichten“ kritisiert Heinrich Hoffmann – verständlich nur dem Erwachsenen – die großbürgerliche Familie. Seine trotzigen Kinder begehren (auch) gegen die biedermeierliche Gesellschaft auf. Meist sind die Eltern nicht da: „Konrad, sprach die Frau Mama, ich geh aus und du bleibst da“, heißt es etwa, und auch das zündelnde Paulinchen ist „allein zu Haus“. Sitzt die Familie doch mal zusammen, wie im „Zappelphilipp“, herrscht dicke Luft. Der Vater spricht „in ernstem Ton“, und „die Mutter blickte stumm, auf dem ganzen Tisch herum“. In dieser Sichtweise ist die Geschichte eine Ohrfeige für die Eltern!

Auch eine Episode gegen Rassismus hat Hoffmann gezeichnet und getextet: Die bösen Buben, die über den „kohlpechrabenschwarzen Mohr“ lachen, werden vom Niklas bestraft und per Tintenfass selbst zu Schwarzen gemacht.

Wenn Heinrich Hoffmann die Risse in der bürgerlichen Fassade zeigt, erweist er sich damit als der Querdenker und Revolutionär, der er war. Unter dem Pseudonym Peter Struwwel (es war eines von mehreren) wetterte er gegen sture Dogmatiker und klerikale Reaktionäre. Begeistert beteiligte er sich an der Märzrevolution von 1848, ließ sich ins Frankfurter Vorparlament der Nationalversammlung wählen. Er war sozial engagiert. Als Arzt betreute er verarmte Patienten in Frankfurt und Umgebung, arbeitete in der „Armenklinik in der Mariengasse“ mit.

Nicht nur für Kinder

Achtundsechziger, die „pfui!“ rufen, wenn sie vom „Struwwelpeter“-Autor hören, beschimpfen also womöglich einen geistigen Verwandten. Der Frankfurter Doktor mit dem weißen Rauschebart hätte einer der ihren sein können. Und die Titelfigur Struwwelpeter hätte mit Afrolook und alternativen Klamotten gut in die Hippie-Ära gepasst . . .

Der „Struwwelpeter“ machte trotz aller Anfeindungen sehr schnell seinen Weg, wurde bis heute in 40 Sprachen übersetzt. Auch Wilhelm Busch (1832 bis 1908) war von dem Bilderbuch beeinflusst, so Hans Ries, Herausgeber der historisch-kritischen Busch-Ausgabe im Katalog zur Ausstellung „Max und Moritz treffen Struwwelpeter“ in Schwäbisch Hall (siehe Kasten). Die Streiche von „Max und Moritz“ sind Warngeschichten wie die „Struwwelpeter“-Episoden. Doch Busch hebt den Zeigefinger lange nicht so hoch, „Max und Moritz“ sei „so unpädagogisch wie möglich“, schreibt Ries.

Auch „Max und Moritz“ ist nicht nur ein Kinderbuch, sondern eine Satire für erwachsene Leser. „Die braven Dörfler werden vorgeführt“, sagt die Bamberger Wilhelm-Busch-Biografin Gudrun Schury. Da ragen, grotesk dünn, die Beine von Schneider Böck aus dem Bach, in den er gestürzt ist, weil die Buben die Brücke angesägt haben. Ein Hausschuh fliegt durch die Luft – lächerliches Symbol verlorener Bürgergemütlichkeit. Da isst die Witwe Bolte am liebsten aufgewärmten Kohl, da sind Lehrer Lämpels „größte Freud“ Pfeife und Zufriedenheit.

„Es ist wie in einer Versuchsanordnung: Man schaut, was passiert, wenn Unordnung in ein verschlafenes Nest einzieht“, erklärt Gudrun Schury.

Dass Max und Moritz in der Mühle ihr Ende finden und letztlich also die Spießbürgerlichkeit siegt – man darf das als resignative Kritik Buschs an seiner Umgebung sehen.

Auch Wilhelm Busch hätte – mit seinem Rauschebart und dem Räuberhut, mit dem er sich selbst porträtierte – einen wunderbaren Achtundsechziger abgegeben . . .

Die Ausstellung „Max und Moritz treffen Struwwelpeter“ in Schwäbisch Hall

Die Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall widmet sich mit „Wilhelm Busch – Was ihn betrifft. Max und Moritz treffen Struwwelpeter“ zwei Klassikern der Kinderliteratur. Zu sehen sind 350 Ausstellungsstücke, darunter Erstausgaben von Wilhelm Buschs „Max und Moritz“und Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“. Nachgezeichnet werden Querverbindungen von Hoffmann zu Busch, der den 20 Jahre vor „Max und Moritz“ erschienenen „Struwwelpeter“ kannte und in diversen Zeichnungen parodierte. So tritt in „Der kleine Pepi mit der neuen Hose“ (1860) ein Schneider auf, der dem aus Hoffmanns „Daumenlutscher“ nachempfunden ist.

Werke von Wilhelm Busch nehmen den breitesten Raum in der Ausstellung ein. Dabei geht es natürlich um die bekannten Bildergeschichten, die als Väter des modernen Comics gelten dürfen. Gezeigt wird mit Porträts, Landschaften und Genreszenen aber auch Wilhelm Busch als Maler. Wobei vielen Ölbildern anzusehen ist, dass ihr Schöpfer, der an der Kunstakademie studiert hatte, von der Zeichnung her dachte. Auch Zeichnungen und Studien werden gezeigt. Einzelne Kapitel der thematisch geordneten Ausstellung widmen sich etwa den Bereichen „Busch und die Religion“, „Busch und die Alltagswelt“, „Busch und der Alkohol“ oder „Busch und die Niederländische Malerei“. Öffnungszeiten: Täglich 10-18 Uhr, bis 18. September. Eintritt frei. Parallel zu „Max und Moritz/Struwwelpeter“ ist bis 28. März eine Op-Art-Ausstellung zu sehen, die am 6. April von „Picasso in Deutschland“ abgelöst wird (bis 18. September). Zehn Gehminuten von der Kunsthalle entfernt, lohnt ein Besuch der Johanniterkirche mit Kunst Alter Meister aus der Sammlung Würth. hele

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Foto: dpa
 
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