
Es geht um Sex. Der heutige Betrachter erfährt das nur aus dem Bildtitel. Dabei hat Hendrik Gerritsz Pot in seine um 1630 gemalte Bordellszene Hinweise auf die Vorgänge eingearbeitet: Auf dem Tisch stehen Gläser in Kelch- und Schalenform – Symbole für männliches und weibliches Geschlecht. Verschiedene Gegenstände sind über den Boden verteilt – Zeichen für die Zerstörung der sittlichen Ordnung. Seinerzeit wusste zumindest der gebildete Betrachter diese Zeichen zu deuten. Heute können damit nur noch Kunsthistoriker etwas anfangen.
Zeichen, Symbole und Andeutungen reichen heute nicht mehr. Der Künstler muss deutlich werden. So wie Martin Eder und Tracey Emin. Beide erzählen in ihren 2009 entstandenen Bildern offensiv von Sex und sexuellen Handlungen. Die Werke hängen nur wenige Meter von der barocken Bordellszene entfernt in der Ausstellung „Bittersüße Zeiten“ in der Aschaffenburger Jesuitenkirche (siehe Kasten). Und nicht nur, wenn es um Sex geht, ist Kunst in den letzten drei, vier Jahrhunderten direkter geworden, schriller, vielleicht auch aufdringlicher.
Leonardo da Vincis „Dame mit dem Hermelin“, gemalt 1489/90, ist das stille Porträt einer jungen Frau (in der Ausstellung als kleines Foto zu sehen). 2008 kehrt die Fotografin Carina Linge das Motiv als „Dame mit Kaninchen“ ins Gruselige: Das Tier, das die Frau im Arm hält, ist gehäutet. Blankes Fleisch und ein augenloser Schädel lassen den Betrachter zurückzucken. Dahinter stecken zwar viel Gedankenarbeit der Fotografin, Zeitkritik und wohl auch ein Hauch Ironie. Doch für die Oberfläche gilt: Dezenz – Fehlanzeige.
Laut und schräg
Die im Barock verbreiteten „Memento mori“-Bilder haben, obwohl sie an den Tod erinnern, in ihrer dunklen Ruhe etwas Tröstliches. In Olrik Kohlhoffs „Da haben wir den Salat“ von 2008 ist's mit Ruhe und Trost vorbei. Seine Salat essenden Schädel sind laut und schräg. Dezenz – wiederum Fehlanzeige.
Die Aschaffenburger Ausstellung zeigt, dass Kunst seit dem Barock viele Wege genommen hat. Und eben auch den in Richtung „schrill“ und „schockierend“. Doch warum? Sind wir heute unsensibler als unsere Vorfahren? Muss uns eine Botschaft anschreien, damit wir sie begreifen? Geht der Kunst die Subtilität verloren, weil der Betrachter nicht mehr bereit oder in der Lage ist, sie aufzunehmen?
Schwarzes Kleid mit goldenen Verzierungen, breiter Kragen, kunstvolle Haube, schwere Schmuckketten: Cornelis van der Voort zeigt in seinem „Porträt einer jungen Dame“ (1620/1624) die hohe gesellschaftliche Stellung der Frau. Mag es heute auch so wirken: Dem Maler ging es nicht um Äußerlichkeiten. Es ging ihm um das wahre Wesen der Dame. Und darunter verstand man damals eben den sozialen Rang: „Nicht jeder war berechtigt, ein Porträt von sich anfertigen zu lassen. Es benötigte eine besondere gesellschaftliche Stellung, ein besonderes Verdienst oder einen besonderen Anlass“, schreiben Andrea Fromm und Tom Beege, die Kuratoren der Ausstellung, im Katalog.
Auch der Bildausschnitt sagt etwas über die Bedeutung des dargestellten Menschen aus. Nur Hochgestellte wurden von Kopf bis Fuß gezeigt. Für weniger Wichtige musste ein Brustbild genügen. „Keinesfalls“, so die Kuratoren, ging es um „die Gemütsverfassung“. Die galt als nicht darstellbar, weil sie „der geistigen Welt“ angehörte. Dem modernen Künstler geht es gerade darum. Er kehrt sozusagen das Innere nach außen. In Norbert Biskys Bild ohne Titel von 2009 explodiert ein menschliches Gesicht. Spektakulär und starkfarbig spritzen Blut und Speichel. Er wolle „innere Kämpfe um Identität in einer Welt falscher Versprechungen“ zeigen, heißt es in dem biografischen Bisky-Buch „Ich war's nicht“. Äußerlichkeiten, die einem Alten Meister wichtig waren, spielen für ihn keine Rolle mehr.
Ob moderne Sex-Szene oder gehäutetes Kaninchen: Wer sich in der Aschaffenburger Jesuitenkirche selbst beobachtet, merkt, dass die offensive moderne Bildsprache den Blick anzieht. Stärker als die alten Gemälde, mögen die noch so kunstvoll sein. Kein Wunder: Wir sind ständig umgeben von Medien, die um Aufmerksamkeit buhlen, wir sind konditioniert auf „schrill“. Das Laute, Schockierende ist in zunehmendem Maße die Sprache unserer Gegenwart.
Der Künstler reagiert
Das heißt auch: Wer eine Botschaft hat, muss sie wesentlich aggressiver verkaufen als im Barock, als es kein Fernsehen, kein Internet, keine Werbung gab. Auch deshalb schreit uns moderne Kunst oft an. Weil wir tatsächlich, auch durch den inflationären Gebrauch von Medien, abgestumpft sind. Künstler reagieren drauf. Vielleicht haben sie gar keine andere Wahl, als mit schrillen Mitteln zu arbeiten.
Die auf uns heute ruhig wirkende Oberfläche Alter Meister sollte aber nicht täuschen: Damals war die Welt genauso wenig heil und geordnet wie heute. Es wirkt nur so, weil die Kunst stark in Konventionen gefangen war. Umgekehrt sollte auch die schrille Oberfläche manch modernen Bildes nicht täuschen: Darunter verbirgt sich mindestens genauso viel Bedeutung und oft sogar Subtilität wie bei Alten Meistern. Jedenfalls bei guter Kunst.
Ausstellung in Aschaffenburg
„Bittersüße Zeiten“ heißt eine Ausstellung in der Aschaffenburger Galerie Jesuitenkirche, in der Werke in einen Dialog treten, deren Entstehungszeit rund 400 Jahre auseinanderliegt. Die Schau ist thematisch geordnet, es geht um Kindheit und Vergnügen ebenso wie um Arbeit und Tod.
Die Schau zeigt die fundamentalen Unterschiede in der Kunst und der Perspektive beider Epochen auf das Leben, aber auch die Gemeinsamkeiten.
Fast 30 Werke aus dem holländischen und flämischen Barock des 17. Jahrhunderts sind zu sehen, dazu eine umfangreiche Auswahl zeitgenössischer Werke, darunter Arbeiten von David Hockney, David Lynch, Jonathan Meese und Neo Rauch. Insgesamt zeigt die Jesuitenkirche mehr als 120 Kunstwerke.
Öffnungszeiten: Dienstag 14–20, Mittwoch bis Sonntag 10–17 Uhr. Bis 6. September.