Ich bin glücklich, dass die Geräte irgendwann ausgestellt werden“, sagt Jochen Ohlhaut. Er betrachtet das Inventar aus dem ehemaligen Vorführraum der „Torlichtspiele“ – und ihm ist mehr als ein Hauch Wehmut anzumerken, obwohl in dem Kino im Würzburger Stadtteil Heidingsfeld schon 1964 der letzte Abspann lief. „Ich verbrachte meine ganze späte Jugend im Vorführraum.“
Als seine Eltern das Kino an der Ecke Wenzelstraße/Am Nikolausspital 1954 eröffneten, arbeitete der gelernte Maurer Ohlhaut als 19-Jähriger tagsüber auf der Baustelle – abends wechselte er in dem Raum über dem Kinosaal die Filmrollen in den zwei großen Projektoren. Heute ist Jochen Ohlhaut 77 Jahre alt und erinnert sich noch gut an die Zeit der damaligen Leinwandhelden, an Liselotte Pulver und Heinz Rühmann, an Charlton Heston als „Ben Hur“ und Audrey Hepburn in „Geschichte einer Nonne“. Zu den größten Kassenschlagern auch in den „Torlichtspielen“ gehörten die „Trapp-Familie“ mit Ruth Leuwerik, das üble Durchhalteepos „Alamo“ mit John Wayne und – selbstverständlich – die „Sissi“-Trilogie mit der blutjungen Romy Schneider und Karlheinz Böhm.
Auch Hollywoodschinken wie „Die zehn Gebote“ hatten eine magische Anziehungskraft. Während die Besucher 217 Minuten lang biblischen Nachhilfeunterricht im Cinemascope-Format erhielten, leistete Jochen Ohlhaut Schwerstarbeit: Der Streifen war zehn Filmrollen lang und deshalb insgesamt rund 100 Kilogramm schwer. Außer dem Wechseln der Rollen musste Ohlhaut auch auf den optimalen Abstand der Kohlestifte im Gehäuse achten, die Lichtbögen erzeugten. Per Hand spulte er die durchgelaufenen Rollen wieder zurück. Das dauerte mehrere Minuten für jede Rolle. Oft rissen die schon einige Male geklebten Filmkopien – die „Torlichtspiele“ waren im Gegensatz zum Premierenkino „Bavaria“ in der Würzburger Innenstadt eine Nachspielstätte, das heißt, die Filme liefen dort etwa drei Monate später. Ohlhaut musste häufiger unter Zeitdruck eine Panne beheben. Dem Publikum trieb es die Zornesröte ins Gesicht, und es „tobte, wenn die Leinwand weiß wurde“.
Die Höhepunkte der Ausrüstung
Ohlhaut sitzt auf einem von zwei Gleichrichtern, daneben stehen ein Verteilerkasten, aus der Wand montierte Brandschutzklappen, Vorhangmotoren, Objektive und eine Holzkiste, in der sich leere Filmrollen befinden. Auf dem Schoß hat er einen verstaubten Schallplattenspieler, der vor dem Beginn der Vorstellung sowie bei der Präsentation von Dia-Werbung örtlicher Unternehmen zum Einsatz kam. Das Inventar hat mittlerweile seinen Weg nach Dresden gefunden, wo es in den Technischen Sammlungen ausgestellt werden soll. Im wahrsten Sinn des Wortes Höhepunkte der Ausrüstung sind die zwei Projektoren von Zeiss Ikon, Ikosol II-Typen Ernemann VIII, die nicht in der DDR, sondern im Stuttgarter Werk hergestellt wurden. Damals gab es den Zeiss-Konzern in beiden deutschen Staaten. Seit 48 Jahren suchten Ohlhaut und seine Schwester Irmtrud Mechler für die bis vor kurzem noch fest installierten Geräte des Vorführraums eine sinnvolle Nutzung. Gespräche mit Interessenten in Indien verliefen erfolglos. Erst im Sommer 2010 gelang der Durchbruch. Ohlhaut besuchte das Zeiss-Werk in Jena. Dort bekam er den Tipp, sich an die Technischen Sammlungen Dresden zu wenden.
„Meine Eltern mussten die ,Torlichtspiele' 1964 schließen“, erzählt er. Eine der Ursachen für das damalige Kinosterben war die Mobilisierung: Familien unternahmen an den Wochenenden immer öfter Ausflüge mit dem Auto statt in Kinos zu gehen. Außerdem nahm die Zahl der Fernsehgeräte in rasantem Tempo zu. Bis zur Aufgabe des Kinos gab es freitags und samstags Vorstellungen jeweils um 20 und 22.30 Uhr. An Sonntagen begannen die Vorführungen mit der Matinee um 10 Uhr, um 14 Uhr folgte das Kinderprogramm, um 16, 18 und 20 Uhr wurden Filme gezeigt. Werktags flimmerte jeweils ein Film über die circa zwölf mal viereinhalb Meter große Leinwand. „Vor allem nach den Kindervorstellungen musste meine Mutter viel kehren, Tausende von Bonbonpapierchen lagen auf dem Boden“, erinnert sich Ohlhaut noch genau.
Er weiß auch noch genau, dass die Stadt die Abführung der zehnprozentigen Vergnügungssteuer genau überwachte. Oft kam überraschend ein Kontrolleur während der Vorstellung, „es musste das Licht angemacht werden, er zählte die Besucher und verglich die Zahl mit den verkauften Karten“. Sogar für Freikarten an mittellose Kinder mussten die Kinobetreiber die Abgabe entrichten.
Vorfilm mit pädagogischem Hintergrund
Die Eintrittspreise betrugen in den Hauptvorstellungen 1,20 bis 2,50 Mark, nachmittags kostete das Kinovergnügen 60 Pfennige bis 1,50 Mark. Die 360 Sitzplätze verteilten sich auf vier Kategorien: 1. und 2. Platz, Sperrsitz, Loge, die, rot gepolstert, „nahmen sehr gerne Pärchen in Beschlag“. Eine Vorstellung beinhaltete mehrere Abschnitte. Zunächst wurden drei Minuten lang Dias gezeigt – Werbung meist örtlicher Betriebe. Anschließend folgten für sechs bis acht Minuten lang Werbespots von großen Unternehmen, ehe ein bis zu 15-minütiger Vorfilm mit „pädagogischem Hintergrund“ präsentiert wurde. Themen waren Land, Leute, Forschung, Aufklärung. Schließlich gab es Vorschauen auf andere Filme und die „Wochenschau“ mit Nachrichten aus Politik und Sport. Erst dann durfte man sich am Hauptfilm erfreuen – in Schwarz-Weiß oder in Farbe.
„Ich schaue mir heute noch lieber Schwarz-Weiß-Streifen an.“ Auch Ohlhauts Lieblingsfilm kommt ohne Farbe aus: „Rififi“ von Jules Dassin aus dem Jahr 1955. In dem französischen Krimi raubt eine Bande den Geldschrank eines Juweliers aus. Im Original dauern die Einbruchsszenen 32 Minuten – ohne Dialog und Musik in absoluter Stille.
Nun also steht sowohl der ehemalige Vorführraum leer als auch der Kinosaal der einstigen „Torlichtspiele“ darunter. Dort befand sich bis Ende 2011 ein Lebensmittelmarkt. „Wir werden uns bemühen, diese Fläche weiterhin zu vermieten, um der schleichenden Verödung des ,Städtle' entgegenzuwirken.“
Die Technischen Sammlungen Dresden
Projektoren zunächst ins Depot „Alle Gegenstände aus Würzburg werden bei uns zunächst inventarisiert und katalogisiert und kommen danach ins Depot“, sagt Marco Wende, Museologe der Technischen Sammlungen Dresden, über die Dinge, die ihren Weg aus dem Würzburger Stadtteil Heidingsfeld nach Dresden fanden. Die im Februar 2011 dort neu gestaltete Ausstellung zum Thema „Foto- und Kinotechnik“ soll erweitert werden – wann, steht jedoch noch nicht fest. „Wir haben noch keinen in Stuttgart produzierten Zeiss-Ikon-Projektor in unserer Sammlung“, betont Museologe Wende. Deshalb wäre es eine gute Möglichkeit, anhand der aus Würzburg geholten Geräte „die Ost-West-Entwicklung darzustellen“. Das Museum „Die Technischen Sammlungen“ befindet sich in einem 1898 von Heinrich Ernemann errichteten Gebäude in Dresden-Striesen. Von Kamerawerke zur Zeiss Ikon AG 1926 vereinigten sich die Ernemann-Kamerawerke mit verschiedenen anderen deutschen Herstellern, unter anderen der ICA-AG Richard Hüttigs, zur Zeiss Ikon AG mit Stammsitz Dresden.
Ab 1947 widmete sich das Unternehmen wieder der Kameraproduktion. Während die Aktionäre der Zeiss Ikon AG den Firmensitz nach Stuttgart verlegten, kam das Dresdner Werk 1948 in DDR-Volkseigentum. Am 1. Januar 1959 wurden die Dresdner Kamerahersteller Zeiss Ikon (VEB Kinowerke Dresden), Kamerawerke Niedersedlitz (ehemals Noble), Altissa, Aspecta und Welta als VEB Kamera- und Kinowerke Dresden zu einem Großbetrieb zusammengeschlossen, der ab 1964 als VEB Pentacon firmierte.
Nach der Wiedervereinigung 1990 waren die von Pentacon hergestellten Kameras trotz ihrer hohen Qualität auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig, woraufhin die Treuhandanstalt das Unternehmen 1991 liquidierte. Zuvor hatte man den Betrieb noch im Juni 1990 aus dem Kombinat Carl Zeiss Jena ausgegliedert und in eine GmbH umgewandelt. Die endgültige Produktionseinstellung erfolgte im Januar 1991, die formale Auflösung der Pentacon Dresden GmbH am 30. Juni 1991. Das frühere Stammhaus mit dem Ernemann-Turm wurde 1994-1997 umfassend saniert und umgebaut. Heute haben dort die Technischen Sammlungen Dresden ihr Domizil. Text: FN