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FRANKFURT
Die Entdeckung Richard Gerstl
Richard Gerstl (1883-1908): In einer opulenten Retrospektive würdigt die Frankfurter Kunsthalle Schirn einen zeitlebens verkannten Maler, dessen radikales Genie heute frappierend frisch wirkt.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:39 Uhr

Richard Gerstl hat in seinem kurzen Leben etwa 80 Bilder gemalt, 60 sind überliefert. 53, die meisten aus Wiener Museen, zeigt die Frankfurter Kunsthalle Schirn – eine Entdeckung, die den Kunsthorizont der allermeisten Besucher spektakulär erweitern dürfte, denn „Richard Gerstl ist immer noch ein Geheimtipp“, so Philipp Demandt, Direktor von Städel und Schirn, im Vorwort zum Katalog.

Richard Gerstl, geboren 1883 in Wien, setzte 1908, mit 25 Jahren, seinem Leben ein Ende. Und hinterließ ein Werk, das in seiner Vielfalt und Radikalität immer wieder staunen macht.

Eine Fotografie um 1905
Foto: Archiv Otto Breicha | Eine Fotografie um 1905

Als Künstler weitestgehend isoliert, wurde er zu Lebzeiten weder ausgestellt noch verkauft. Für seine Arbeiten gibt es keine Vorbilder, keiner seiner Zeitgenossen war auch nur annähernd so kühn, von Nachfolgern kann ebenso wenig die Rede sein. Richard Gerstl gilt zwar als der erste österreichische Expressionist, doch viele seiner Bilder gehen in ihrer wilden Reduktion weit über expressionistische Formensprache hinaus und nehmen die Malerei des Abstrakten Expressionismus der 1950er-Jahre vorweg.

Der Vater ist ein erfolgreicher und wohlhabender Geschäftsmann jüdischer Herkunft, die Mutter Christin, die auf der katholischen Taufe der drei Söhne (Richard ist der Jüngste) besteht. Bereits mit 15 wird Richard Gerstl, der zuvor schon Zeichenunterricht erhalten hat, an die Akademie der bildenden Künste in Wien aufgenommen, überwirft sich aber bald mit seinem Professor, geht ab und bildet sich vor allem autodidaktisch weiter. 1906 kehrt er an die Akademie zurück, aber auch dieser zweite Anlauf bleibt erfolglos.

Selbstbewusst, rigoros, nervös, labil

Zeitgenossen beschreiben Richard Gerstl als selbstbewusst, rigoros, nervös und labil – ironischerweise wirkt er, der Außenseiter, damit wie eine Verkörperung seiner überhitzten Zeit.

Selbstbildnis als Halbakt (1902/04)
Foto: Leopold Museum Wien | Selbstbildnis als Halbakt (1902/04)

Er selbst lehnt alles ab, was mit Konvention, Zwang oder Disziplin zu tun haben könnte. Die Kunst im Wien der Jahrhundertwende steht zwischen den Historienschinken eines Hans Makart und der quasireligiös überhöhten Ästhetik der Secession.

All das interessiert Gerstl nicht. Er ist auf der Suche nach einer tieferen Wahrhaftigkeit und geht dabei „ganz neue Wege“, wie er im einzigen Brief schreibt, der von ihm erhalten ist. Doch so wild und nicht selten aggressiv sein breitpinseliger und pastoser Farbauftrag wirken mag, so sensibel und dennoch treffend sind seine Bildnisse. Während er sich in den 17 überlieferten Selbstporträts schonungslos selbst entblößt, einmal gar selbst verhöhnt, nähert er sich anderen, auch und gerade seiner Geliebten Mathilde Schönberg, der Frau des Komponisten Arnold Schönberg, mit achtungsvoller Distanz.

Gerstl geht dem Wesen auf den Grund

Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Frankfurter Retrospektive, zeigt gleich im ersten der dunklen Räume mit den „runden Ecken“ (Pfeiffer) Anfang und Ende: Gerstls „Selbstbildnis als Halbakt“ von 1902/04 und sein „Selbstbildnis als Akt“ aus dem September 1908, entstanden wenige Wochen vor seinem Tod – er ist damit der erste Künstler seit Dürer, der sich komplett nackt selbst darstellt.

Im ersten Bild sind Einflüsse des Symbolismus erkennbar, das zweite, entstanden in der elterlichen Wohnung, vom Vater durchaus nicht goutiert, zeigt den Maler auf der Höhe seines unerhörten Könnens und gleichzeitig an einem Tiefpunkt seines Lebens: Gerstl, der kaum Kontakte zu Künstlerkollegen unterhält, hatte 1907 Anschluss an den verschworenen Kreis um Schönberg gefunden und die Affäre mit Mathilde begonnen. Als die Affäre auffliegt und endet, endet auch der Kontakt zum Schönberg-Kreis und damit ein kurzer Urlaub von der Einsamkeit.

Selbstbildnis als Akt (12. September 1908)
Foto: Manfred Thumberger | Selbstbildnis als Akt (12. September 1908)

Bei aller Faszination, die Richard Gerstls malerische Autonomie ausübt – noch faszinierender ist seine Fähigkeit, den Geist eines Ortes oder eines Augenblicks, Stimmung oder Charakter eines Porträtierten einzufangen. Die gequälte Skepsis im eigenen Antlitz. Die beunruhigende Illusionslosigkeit im Blick eines Kindes. Aber auch die Wärme der Sonne auf einem Gartenzaun oder die kühle Wand der Berge über dem Traunsee.

Zwei Sommer verbringt Richard Gerstl mit dem Schönberg-Kreis am Traunsee. Hier entstehen wunderbare Landschaften, vor allem aber, im Sommer 1908, Einzel- und Gruppenbildnisse der Reisegefährten.

Richard Gerstl, Gruppenbildnis mit Schönberg, Ende Juli 1908 – noch ist es nicht zum Bruch mit dem Schönberg-Kreis gekommen, aber die Darstellung des Komponisten (links oben) deutet auf ein belastetes Verhältnis hin.
Foto: Kunsthaus Zug, Alfred Frommenwiler | Richard Gerstl, Gruppenbildnis mit Schönberg, Ende Juli 1908 – noch ist es nicht zum Bruch mit dem Schönberg-Kreis gekommen, aber die Darstellung des Komponisten (links oben) deutet auf ein belastetes ...

Es erscheint kaum sinnvoll, angesichts einer Schaffenszeit von vielleicht sechs Jahren von einer Spätphase zu sprechen, aber es sind die Bilder aus dem Sommer 1908, die Gerstl an der Schwelle zur vollkommenen Abstraktion zeigen. Und doch: Die Gesichter das Abgebildeten mögen weitgehend ausgelöscht sein, ihrem Wesen geht Gerstl dennoch auf den Grund – sei es die beinahe bedrohliche Strenge Schönbergs oder die milde Eitelkeit des Komponistenkollegen Alexander von Zemlinsky.

Richard Gerstl. Retrospektive, Kunsthalle Schirn, Frankfurt, bis 14. Mai. Di., Fr. bis So. 10–19 Uhr, Mi., Do. 10–22 Uhr. Der Katalog kostet 32 Euro in der Schirn, 45 Euro im Buchhandel.

 
 
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