„Medea“ in den Meininger Kammerspielen – eines jener Ereignisse, nach denen man als Zuschauer weder ein wiedererkennendes „Ah“ noch ein staunendes „Oh“ auf den Lippen hat, sondern zum Programmheft greift, um zu verstehen, was der Meister uns eigentlich sagen will. Es sei denn, man ist so in der griechischen Mythologie bewandert, dass einem die Unkenntnis wie Schuppen von den Augen fällt.
Patrick Seiberts Inszenierung spielt mit dem Medea-Komplex, der, seit Euripides, bis heute über dreihundert Metamorphosen erlebt hat. Von der „Barbarin aus dem Osten“, die ihrem geliebten Jason ins angeblich zivilisierte Korinth folgt und die dort – verschmäht und ausgestoßen – zur Serienmörderin wird, deren Rachegelüste selbst vor den eigenen Kindern nicht Halt machen.
Oder, das andere Extrem: Medea, die empathische Heilerin, die ihre Heimat der Liebe wegen verlässt, um in der Fremde zum Sündenbock für Taten zu werden, die sie nicht begangen hat. So sieht es etwa Christa Wolf.
Als Jongleur verschiedener Medea-Texte – von Euripides über Grillparzer bis zu Heiner Müller und Christa Wolf – lässt der Regisseur seine tragische Heldin in Gestalt von Ulrike Walther 70 Minuten lang mit ihrem Schicksal hadern: Sie will nicht länger Medea sein, weder die eine noch die andere. Die Zuschauer hören die Worte einer zerrissenen Seele, ohne sie einem eindeutigen Gut-Böse-Bild zuordnen zu können. Als fiktiven Ansprechpartner hat Medea nur einen Mann, der auf einem kleinen Podest sitzt und musiziert.
Zwei ironische Marken prägen diese Szenerie: Der Mann trägt einen orientalischen Kaftan. Und am Podium lehnt das Schild „Der deutschen Kunst“. Der junge Cellist Oliver Schwieger ist mit seinen Kompositionen so etwas wie Rhythmusgeber, Erinnerungsträger und Gegenspieler der Reden Medeas. Er sitzt – als orientalischer Gast-Künstler – im erhabenen nationalen Kunstraum, von Medeas Spannungsfeld durch eine schwarzrotgoldene Kordelgrenze geschützt (Bühne: Helge Ullmann, nach einer Idee des Regisseurs). Als Barbarin gebrandmarkt, vegetiert Medea als „displaced person“ neben einem Rotkreuzzelt auf einem völlig vermüllten Platz – im Flüchtlingslager auf einer griechischen Insel.
Sie hadert in einem langen, reinen Kostüm (ebenfalls nach einer Idee des Regisseurs) wie eine Erscheinung aus einer vergeistigten Welt: halb klassisches Gewand, halb Reformkleid aus dem 19. Jahrhundert.
Medeas Deplatzierung im Plastikmüll verkünstlicht die eh schon symbolträchtige Ab- und Ausgrenzungsszenerie noch einmal. Trotz des leidenschaftlich vorgetragenen Potpourris unterschiedlicher Medeatexte wirken ihre Äußerungen wie verzweifelte Reden an ein wissendes Forum.
Nicht von ungefähr werden von klugen Köpfen in einer Zeit massiver Korrodierung humanistischer und demokratischer Werte immer wieder Parallelen zu den Ereignissen in der griechischen Mythologie gezogen.
Ob allerdings der Wahrheitsfindung der weniger mythensicheren Menschen damit gedient ist, dass man eine der Gegenwart entrückte Mythengestalt einfach mal kurz ins Flüchtlingslager steckt, darf bezweifelt werden. Das wirkt, trotz aller guten Absichten, ungemein bemüht.
Nächste Vorstellungen: 15. Dezember und 4. Februar, jeweils 20 Uhr. Kartentelefon (0 36 93) 45 12 22. www.das-meininger-theater.de