zurück
WÜRZBURG
Deutsches Blut und türkische Haut
dpa
 |  aktualisiert: 15.09.2015 13:58 Uhr

(dpa/gl) Migration, Heimat, Glaube, Vielfalt – Feridun Zaimoglu (50) bringt alles in seinem neuen Roman („Siebentürmeviertel“) unter. Geplant war das nicht, stellt der Autor klar. „Ich bin ein klassischer Geschichtenerzähler und kein Konzeptkünstler“, so Zaimoglu. „Ich habe mir nicht von Anfang an vorgenommen, all diese Aspekte im Roman unterzubringen, sondern eine Geschichte zu erzählen.“ Im Rahmen des Literarischen Herbstes der Würzburger Stadtbücherei (8. Oktober bis 24. November) wird Zaimoglu am 11. 11. aus „Siebentürmeviertel“ lesen.

Er erzählt in dem Buch die Geschichte von Wolf. Der Sechsjährige flieht 1939 zusammen mit seinem Vater aus Nazi-Deutschland nach Istanbul. Die beiden wohnen im Armenviertel Yedikule (deutsch: sieben Türme) bei einer türkischen Familie, bis Franz, Wolfs Vater, nach Ankara zieht und seinen Sohn zurücklässt.

Der Platz in der Fremde

Der Deutsche kämpft sich durch die rivalisierenden Gruppen des Viertels, behauptet sich unter den Jugendlichen, übernimmt den Aberglauben der Menschen („Ich gehe ins Bett, verberge den Daumen in der Handhöhle, um nicht schlecht zu träumen“), erkennt ihre ganz individuellen Befindlichkeiten, findet nach und nach immer mehr seinen Platz in der Fremde. Für ihn ist die emanzipierte Derya Schwester, Pflegevater Abdullah Bey nennt er Vater. Und Franz? „Ich habe ihn vergessen“, sagt Wolf.

Wolf fühlt sich als Türke, obwohl er für die Menschen in Yedikule der Deutsche bleibt. Er wird zum Jungen mit deutschem Blut und türkischer Haut. „Heimat geht ja nicht über den Kopf“, sagt Zaimoglu.

Man könnte meinen, der Schriftsteller drehe seine eigene Migrationsgeschichte um. Zaimoglu ist im türkischen Bolu geboren, seine Familie zog nach Deutschland, als er knapp sechs Monate alt war. Seine Kindheit – und die seines Vaters, der in Yedikule lebte – spielten natürlich in seine Erzählung mit rein. „Ich hätte aber weniger Schritte machen können, hätte ich mich auf meine eigene Kindheit verlassen“, sagt Zaimoglu.

Stattdessen habe er in eineinhalb Jahren der „Anverwandlung“ versucht, sich in den deutschen Bub hineinzuversetzen. Das gelingt dem Schriftsteller: Als Ich-Erzähler Wolf beobachtet er die neue Umgebung bis ins kleinste Detail, hört den Großen aufmerksam zu, gibt Ratschläge oder spitzt die Ohren nach dem, was nicht für ihn bestimmt ist.

Ernüchternd bis amüsant ist, Wolf etwa dabei zu erleben, wie er sich in einem Viertel durchsetzen muss, in dem die Menschen ihn „Hitlersohn“ und „Arier“ nennen, weil auch sie sich in alle nur möglichen Schubladen stecken: Kurde, Türke, Grieche, Christ, Moslem, Jude, Frau, Mann.

Sexuelle Gedanken

Doch die erdachte Figur klingt oft nicht wie ein sechsjähriger Junge, denn Wolf hinterfragt, reflektiert, ordnet ein wie ein Lebenserfahrener. Für Zaimoglu ist das nur natürlich: „Er spricht so, und die anderen sprechen so.“ Die „kleinen Menschen“ lauschten den Älteren die Worte schließlich ab. „Die Kindheit können sie nicht ausleben, sie werden nicht geschont.

“ Auch sexuelle Gedanken macht Wolf sich („Ihre Brüste, Schaum auf den Kacheln, ich denke daran. Sündenbild im Kinderkopf“) als Sechs- wie als Sechzehnjähriger, der er im zweiten Teil des Buches ist.

Den poetischen Schreibstil, der voll von Dialogen ist, zieht Zaimoglu auf 800 Seiten durch. Das ist eine hohe Kunst, aber auch teilweise ermüdend. Auf die Longlist des Deutschen Buchpreises hat der Roman es dennoch geschafft.

Feridun Zaimoglu: Siebentürmeviertel (Kiepenheuer & Witsch, 800 Seiten, 24,99 Euro)

 
Themen & Autoren / Autorinnen
dpa
Feridun Zaimoglu
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen