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BAD MERGENTHEIM
Der verwirrende Weg zur Sonne
Die Unterseite der Bad Mergentheimer Berwart-Treppe ist mit Symbolen versehen. Oben wartet die Sonne.
Foto: Ralph Heringlehner | Die Unterseite der Bad Mergentheimer Berwart-Treppe ist mit Symbolen versehen. Oben wartet die Sonne.
Ralph Heringlehner
Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 27.04.2023 08:14 Uhr

Treppen? Lohnt nicht, drüber nachzudenken, glaubt der moderne Mensch und läuft sie achtlos rauf und runter. Treppen sind da, um Stockwerke zu verbinden. Mittel zum Zweck. Mehr nicht.

In Bad Mergentheim ist das anders. Da windet sich ein ganzer Kosmos zum Dachgeschoss empor. Wer die historische Wendeltreppe im Deutschordensschloss unter die Füße nimmt, begibt sich auf eine Wanderung in eine faszinierend fremdartige Welt.

Schon vor dem Aufstieg kann der Besucher des Schlosses, in dem das Deutschordensmuseum untergebracht ist, das Ziel sehen: Die offene Spindel ermöglicht den Blick zur Decke des Treppenturms. Dort glänzt golden eine Sonne. Doch bevor er in den Himmel gelangt – ganz wird er ihn nie erreichen, auch am Ende der Treppe ist die Sonne noch ein Stück weit weg – muss der Besucher die Mühe des Aufstiegs auf sich nehmen, muss den Windungen folgen. Und damit symbolisch einem Lebensweg: Die Treppe, die Blasius Berwart 1574 im Nordwesten an das ehemalige Wasserschloss anbaute, ist Stein gewordene Chiffre für das irdische Leben.

Der Lebensweg-Wanderer

Eine Fülle von Allegorien und Symbolen begleitet den Treppensteiger, der hier Lebensweg-Wanderer ist. Sie sind, an der Unterseite der Spirale angebracht, aus seiner Perspektive über seinem Kopf. Dicht an dicht und in scheinbar unendlicher Folge ist der Sandstein von Blumen, Tieren, Menschen- und Engelsköpfen geschmückt. Von der stuckierten und bemalten Sonne bis zum kleinteiligen Relief erzählen sie, als seien sie geheime Zeichen, Geschichten – mit einem nahezu gespenstischen Effekt: Je mehr der Treppengänger über sie herausfindet, umso mehr entgleitet ihm die alltägliche Welt der sichtbaren Dinge. Stufe für Stufe erkennt er, dass nichts ist, wie es scheint. Eine Sonne ist nicht einfach ein Gestirn, ein Blatt nicht einfach Vegetation und ein Porträt nicht einfach ein Gesicht.

In „Die Treppe des Blasius Berwart“, einer kürzlich erschienenen Publikation des Deutschordensmuseums, führt Maike Trentin-Meyer durch die Bedeutungsebenen. „Die Sonne kann hier – im Schloss eines christlichen Ordens – als Christus-Symbol gesehen werden“, schreibt die Museumsleiterin. Die Sonne ist von elf Sternen umgeben. Es waren ursprünglich wohl zwölf, die dann die Apostel symbolisiert hätten.

96 Stufen führen zum Himmel. Kein Zufall, glaubt Trentin-Meyer. Die Kunsthistorikerin sieht darin Zahlensymbolik: „Zwölf mal acht Stufen. Die Acht gilt als heilige Zahl“ und stehe auch für die Auferstehung. Sie komme ebenso im Achteck des Treppenturm-Grundrisses zum Ausdruck. Und zwölf? Womöglich wieder eine Anspielung auf die Apostel?

Die Blätter, die über dem Kopf des Treppengängers ranken, symbolisieren Vitalität. In sie wurden weitere Symbole eingesponnen: Ein Einhorn etwa stehe für die Reinheit Mariens, so Trentin-Meyer, ein Granatapfel für Maria als „mater ecclesiae“ (Mutter der Kirche), Passionsblumen gemahnen an die Leiden Christi.

Auch Weltliches findet sich. Allegorien auf die Jagd sind Hinweise auf das Jagd-Privileg der Deutschordensritter – und damit auch auf die Macht des Ordens. Das Mergentheimer Schloss war Amtssitz des Hoch- und Deutschmeisters.

Die von 20 Steinmetzen und einem damals berühmten Baumeister errichtete Treppe ist ungewöhnlich aufwendig. Das spricht dafür, dass sie bei Besuchern Eindruck schinden sollte. Es steckt aber wohl mehr dahinter als Repräsentationssucht. Wozu bräuchte es sonst all die spirituelle Symbolik? „Ist es vorstellbar, dass sie den Ordensangehörigen zum Beschreiten beim Gebet, z. B. beim Beten des Rosenkranzes als erbauliche Anschauung diente?“ überlegt Maike Trentin-Meyer.

Leicht wirke die Treppe, notiert die Kunsthistorikerin Elfriede Rein. Aller schwergewichtigen Symbolik zum Trotz. Sie ist ein Meisterwerk der Steinmetzkunst. Der renommierte Treppen-Experte Friedrich Mielke (1921 bis 2018) hielt Berwarts Werk für die „bedeutendste Renaissancetreppe nördlich der Alpen“. Dennoch sei sie bisher nicht ausreichend erforscht, bedauert Elfriede Rein. Das Bändchen „Die Treppe des Blasius Berwart“ ist ein erster Schritt.

Berwart-Treppe und Museum

Die Broschüre „Die Treppe des Blasius Berwart“ (40 Seiten mit Abbildungen) ist im Deutschordensmuseum Bad Mergentheim erhältlich. www.deutschordensmuseum.de

Öffnungszeiten des Museums (die Treppe ist Teil des Rundgangs): Dienstag bis Samstag 10.30–17 Uhr (April bis Oktober); 14–17 Uhr (November bis März); Sonntag 10.30–17 Uhr (ganzjährig)

 
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