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FRANKFURT/PARIS
Der Verlust des kulturellen Zentrums
Von unserem Mitarbeiter Matthias Zimmermann
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:01 Uhr

Hätte man nie einen Großvater gehabt, dann wünschte man ihn sich heute, als Erwachsener, wahrscheinlich so. Warmherzig, interessiert und gewitzt; ein großer Erzähler, der auch anderen gerne zuhört. Einer, bei dem man das Gefühl hat, er habe auf alles eine Antwort – aber auch einer, der noch mit 87 Jahren so kluge Sachen darüber sagt, wie das Internet am Gerüst unserer Gesellschaften nagt, wie wohl keiner aus der Generation, die mit der Technik aufgewachsen ist.

Das denkt man sich, wenn man das Glück hat, von Michel Serres in seinem kleinen Stadthaus bei Paris empfangen zu werden und ihm gegenübersitzt. Das Lesen und die Literatur in Frankreich sind die Themen unserer Begegnung. Ein weites Feld – schon deswegen, weil Deutsche und Franzosen ein so anderes Verständnis davon haben, was Kultur denn sei.

Unseren Nachbarn erscheint unser Bestreben, die Sphären Politik, Kultur, Wirtschaft auseinanderzuhalten, als bemüht. Lieber sprechen sie da ganzheitlich von der „civilisation française“. Kultur ist für die Franzosen nicht zu trennen von der Politik. Ein Politiker, der kulturelles Schaffen als Gedöns abtut, wird nie Karriere machen.

Frankreichs Nachkriegspräsidenten hatten nicht nur immer eine Leidenschaft für kulturelle Leuchtturmprojekte – spektakuläre Konzertsäle, Opernhäuser und Museen; sie waren oft genug auch Literaten: Charles de Gaulle, François Mitterand oder Giscard d?Estaing etwa.

Das Verhältnis von Macht und Wort

Also: Wie steht es um das Verhältnis von Macht und Wort in Frankreich? „Man muss zuerst über den Platz der Literatur sprechen“, sagt Serres. „Ich glaube, dass es für die Philosophie in französischer Sprache eine größere Nähe zur Literatur gibt. Die deutschen Philosophen sind echte Philosophen. Sie sind nur Philosophen, wie Hegel et cetera. Die Franzosen sind näher bei der Literatur: Montaigne, Voltaire, Diderot und so weiter. Bei den Franzosen gibt es eine Art Nachbarschaft oder sogar Vermischung zwischen der Philosophie und der Literatur. Auch ich schreibe philosophische Bücher, aber das hat mich nicht daran gehindert, Texte etwa über Zola zu schreiben. Die Literatur ist immer nah. Es stimmt, dass die Philosophen in Frankreich oft politische Philosophen sind – aber eher gegen die Macht als für sie.“

Der Schriftsteller Émile Zola (1840 bis 1902) riskierte 1898 mit seinem Engagement für den unschuldig des Verrats beschuldigten jüdischen Offizier Alfred Dreyfus seine Existenz. Die Geschichte hat Zola recht gegeben. Mit seinem Beispiel hat er das Bild des engagierten Intellektuellen geprägt, das in der Folge zum Leitbild wurde für die Republik. Zumindest für jene, die sich als Verteidiger von Freiheit und Gleichheit verstanden, des Erbes der Französischen Revolution. Die tiefe Kluft zwischen den beiden Teilen der französischen Gesellschaft, die sich während der Dreyfus-Affäre zeigte, bestand natürlich weiter. Mit Ausnahme der Zeit des Ersten Weltkriegs lässt sich das verbissene Ringen – Frankreich gegen Frankreich – um die politische Definition der Nation nachzeichnen, mit verwirrenden und erschreckenden Volten vor und während der deutschen Okkupation in der Nazizeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Paris der Ort, um den sich scheinbar das ganze europäische Geistes- und Literaturleben dreht. Im Zentrum dieses Strudels sitzen an einem Tisch des „Café de Flore“ Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Sie sprechen über die Pflicht des Intellektuellen, teilzunehmen an der Geschichte – und verirren sich dabei in gefährlicher Nähe zu neuen Totalitarismen. Aufregende Zeiten, so stellt man sich das zumindest vor. Längst ist das „Café de Flore“ vor allem ein Sehnsuchtsort für Paris-Touristen. Und das literarische Zentrum der westlichen Welt ist? Wohl kaum zu bestimmen. Michel Serres studierte damals in Paris Philosophie. Was ist da passiert, Monsieur Serres?

Die Zeit entscheidet, was bleibt

„Wir haben zu der Zeit nicht erkannt, dass Paris das geistige Zentrum war. Das wissen wir jetzt, wenn wir noch einmal auf diese Zeit zurückblicken.“ Michel Serres macht eine kurze Pause. Seine Lippen umspielt dieses spitzbübische, selbstironische Lächeln, das er so häufig zeigt. „Auch die Autoren, die man heute liest, werden vielleicht komplett in der Versenkung verschwinden. Die Zeit entscheidet, was bleibt.

Henri Bergson nannte das die rückwärtsgerichtete Bewegung der Wahrheit. Genauso ging es uns Parisern des Jahres 1955, wir wussten nicht, was bleiben wird. Das wissen wir erst heute.“ Serres beugt sich leicht nach vorne. Die buschigen Augenbrauen fahren nach oben. „Ich glaube, die Gesellschaftsform, die wir mit der Erfindung des Internets hinter uns gelassen haben, basiert auf der Idee der Konzentration. Überall gab es Konzentrationen: eine Universität ist eine Konzentration von Studenten und Professoren. Eine Bank ist ein Konzentrat des Geldes. Ein großes Geschäft ist eine Konzentration von Waren und so weiter. In der Zeit der Konzentration war es interessant und wichtig, in das Zentrum zu gehen, um zu verstehen, um bestimmte Sachen zu erwerben. Heute ist unsere Gesellschaft nach dem Modell eines Netzwerks organisiert. Das Modell der Konzentration hat sich immer mehr verflüssigt, aufgelöst. All das hat das Internet ausgelöst. Ich glaube, es gibt kein Zentrum mehr.“

Entsprechend vielfältig ist Frankreichs Buchmarkt heute. Der Transfer von Kultur und Lebensart in die französischsprachigen ehemaligen Kolonien funktioniert längst auch in die andere Richtung. Assia Djebar, Kamel Daoud oder Marie NDiaye sind einige der Autoren, die dem französischen Publikum einen anderen Blick auf das eigene Land vermittelt haben. Migrationserfahrung und Identitätskrisen als Themen der neuen Literatur?

Die Antwort von Michel Serres ist zweigeteilt. Die Identität, das ist für ihn zuallererst das Individuum. Nationalität, Alter, Geschlecht – alles andere sind nur Zugehörigkeiten zu Gruppen. Beides zu verwechseln, ist Rassismus. Ein guter Autor schürfe, so Serres, so tief in seiner Identität, dass die Gruppenzugehörigkeiten verblassen und die Bücher alle berühren. Man kann es aber auch so sagen: „,Autor‘ kommt vom lateinischen Verb ,augeo‘, vermehren oder erhöhen. Den Autor muss man auch so sehen. Ein wirklicher Autor ist derjenige, der mich erhebt. Wenn ich ihn gelesen habe, bin ich besser als zuvor.“

Fakten zu Buchmesse und Buchmarkt

Wann findet die Frankfurter Buchmesse statt? Eröffnung 10. Oktober, Fachbesucher kommen vom 11. bis 13., Publikumstage sind der 14. und 15. Oktober. Die weltgrößte Bücherschau präsentiert heuer rund 7000 Aussteller und rund 4000 Veranstaltungen. 270 000 Besucher werden erwartet. Wo werden Büchern gekauft? Immer noch fast zur Hälfte (47,3 Prozent) im traditionellen Buchladen. Aber fast jedes fünfte Buch (18,2 Prozent) wird inzwischen übers Internet bestellt.

Wer kauft E-Books? Der Hype ist endgültig vorbei: 2016 ging der Anteil der E-Book-Käufer erstmals sogar wieder auf 3,8 Millionen (2015: 3,9 Millionen) zurück.

Wie viele Neuerscheinungen gibt es? Im vorigen Jahr sind 72 820 neue Titel in Erstauflage erschienen. Das waren fast fünf Prozent weniger als 2015. Damit ist auch der Bücherturm geschrumpft, der aus den Neuerscheinungen gebaut werden könnte: Von 2300 auf 2185 Meter. Wie oft wird gelesen? Täglich oder mehrmals in der Woche lesen 42 Prozent der Frauen ein Buch, aber nur 25 Prozent der Männer. Fast 60 Prozent des sogenannten starken Geschlechts lesen lediglich einmal im Monat oder noch seltener.

Bei Frauen beträgt dieser Anteil nur 40 Prozent. Wie teuer sind Bücher im Durchschnitt? Im vergangenen Jahr ist der Preis für einen Roman (Hardcover) gefallen. Im Schnitt wurden dafür 16,30 Euro verlangt (-3,7 Prozent). Auch Kinder- und Jugendbücher (11,51 Euro) wurden etwas billiger. Nur der Preis von Schulbüchern (17,23 Euro) blieb konstant. dpa

000_BH77X       -  Michel Serres
Foto: AFP PHOTO / GERARD JULIEN | Michel Serres
 
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