Behände springt der kleine Herr zwischen den Klavierbänken hin und her, wechselt von einem Flügel zum nächsten. Rasch die Noten aufgestellt, und schon erklingt jenes frische und kraftvolle Thema aufs Neue, das Brahms 1873 zum Ausgangspunkt seiner Haydn-Variationen wählte. „Die sind wirklich alle sehr gut“, konstatiert Vladimir Ashkenazy nach einem halben Dutzend Einsätzen anerkennend und lässt den Blick durch den Showroom der Firma Steinway & Sons schweifen – fast ein wenig erleichtert, dass er nicht auch noch die übrigen 17 schwarz glänzenden Tasten-Riesen in dem klangreduzierten Raum des Fabrikgebäudes in Hamburg zu testen hat. „Ein Luxusproblem“, schmunzelt Gerrit Glaner, Leiter der Künstler- und Konzertabteilung des Klavierbauers.
Luxus? Wie wahr: Zwischen 50 000 und 130 000 Euro kostet solch ein Konzertflügel, mehr als zwei Millionen Euro sind hier also auf knapp 100 Quadratmetern im Stadtteil Bahrenfeld versammelt. Und aus diesen Königen der Tasteninstrumente soll der Pianist nun einen küren – für das berühmte Opernhaus in Sydney. Die Australier schätzen den 76-Jährigen nicht nur als Chefdirigenten ihres Sydney Symphony Orchestras, sondern auch als erfahrenen Flügel-Fachmann. Und so hat Glaner mit ihm dieses „Test-Spiel“ vereinbart – schließlich soll es auch Down Under ein Flügel von Steinway sein.
Natürlich ist Tradition nicht alles, doch gerade in Ozeanien und noch mehr in Asien gilt der berühmteste Klavierbauer der Welt ob seiner Handwerkskunst und der damit verbundenen Historie als Mythos, als Nonplusultra. Und das taugt in der Tat für wunderbare Geschichte(n): Im Jahr 1825 war es, als der junge Tischler und Musikliebhaber Heinrich Steinweg seiner Braut Juliane zur Hochzeit sein erstes selbst gebautes Fortepiano schenkte. Sein elf Jahre später am heimischen Herd gefertigter Flügel ging als „Küchen-Flügel“ in die Geschichte ein. 1853 zog es die Familie dann in die USA, wo er mit seinen Söhnen in New York das Unternehmen „Steinway & Sons“ gründete: Keimzelle des heutigen Weltunternehmens, Keimzelle aber auch für die 128 Patente, mit denen die Steinways den Klavierbau revolutionierten und die Philosophie, dass die für einen Konzertflügel benötigten 12 000 Einzelteile von den Gehäusen über die Resonanzböden bis hin zu den Stegen in einem zwölfmonatigen Prozess zu mehr als 80 Prozent in Handarbeit zusammengesetzt werden. Das ist auch heute noch so.
Genug der Firmenwerbung, auch wenn eben der detailversessene Bau neben der Legendenbildung sich gar trefflich zur geschickten Vermarktung eignet: Kommt doch heute in mehr als 90 Prozent aller großen Konzerte ein Steinway zum Einsatz, werben mehr als 1600 ausgewählte „Steinway Artists“ von Ashkenazy über Billy Joel bis Martha Argerich für den Hersteller – der den Pianisten dafür in allen großen Konzertstädten ein Instrument bereitstellt. Oder die Künstler eben auch eines auswählen lässt wie an diesem Vormittag den Russen: Der nützt die Zeit gleich für eine „luxuriöse“ Überstunde mit Brahms, hatte er doch die letzten Wochen für seine jüngste CD-Aufnahme nur Bach gespielt. „Bach aber taugt für solch eine Entscheidung wenig, denn hierbei kommt es auf einen vollen, großen Klang an, wie er für Orchesterkonzerte benötigt wird“, erklärt Ashkenazy, „und auf die oberen Oktaven, die Bach wenig genutzt hat.“ Gerade die fünfte Oktave sei oft sehr heikel und damit entscheidend: Klängen die Obertöne nicht, „dann ist der Sound flach“. Zum Beweis wechselt der agile Künstler mit der Vorliebe für Rollkragenpullover an den Nachbarflügel. Und tatsächlich – das Exemplar klingt in eben diesem Bereich matter, ja harsch. „Die Brillanz eines Flügels zeigt sich in den höheren Lagen“, stellt er fest. „Die Bassregister brauche ich bei einem Steinway nicht groß zu checken, das sind die besten der Welt.“
Woher das rührt? Seine Gesichtszüge offenbaren ein Fragezeichen, der Mann mit dem vom Wind zerzausten Silberhaar wiegt nachdenklich den Kopf. „Vielleicht liegt es an der Geschichte?“ Oder doch an der gern bemühten Seele, die den Steinway-Flügeln nachgesagt wird?
Anders als die vorwiegend maschinell gefertigten Klaviere aus Asien sind es in Hamburg eben die Hände der mehr als 260 Mitarbeiter, die die Instrumente bis heute formen. Sei es im Rimbiegeprozess, wo das hochwertige Ahorn- und Mahagoniholz in bis zu 20 Schichten gepresst und verleimt wird, bei der Ausdünnung der Resonanzböden zu ihren Enden hin, um die optimale Bandbreite in Dynamik und Tonlänge zu erreichen, oder der sorgsamen Mensur der Resonanzbodenstege: Schließlich, so hat Steinway-Chef-Klavierstimmer Stefan Knüpfer einmal die Magie beschrieben, werden im Konzertsaal Tausende von Kubikmetern Luft in Schwingungen versetzt, weil der Pianist eine Taste mit zehn Gramm berührt – da kommt es auf jeden Millimeter an. Und so verleiht Glaner „seinen“ Instrumenten denn auch menschliche Züge: „Wer hierher kommt, sucht sich einen Gefährten aus, mit dem er später seine intimsten musikalischen Gedanken teilt.“
Doch natürlich funktioniert das reine Geschäft nicht anders als sonst in der globalisierten Wirtschaftswelt: Mehrfach hat in den letzten vier Jahrzehnten der Steinway-Eigentümer gewechselt, erst im Sommer übernahm Hedgefonds-Manager John Paulson für rund 386 Millionen Euro das Traditionsunternehmen, zu dessen Jahresumsatz von 272 Millionen Euro längst auch Trompeten, Hörner, Schlagzeuge und Klarinetten beitragen.
Dennoch: Es sind die Flügel und Klaviere, die bis heute nicht allein zwei Drittel des Geschäfts ausmachen, sondern vor allem den Mythos transportieren. So wie an der „Wall of Fame“ in der Hamburger Backsteinfabrik: Die Porträts zahlreicher Tastenlegenden von Alfred Brendel über Al Jarreau bis Lang Lang blicken den Besucher an, und ein(e) jede(r) von ihnen hat seine ganz besondere Beziehung zu diesen Instrumenten in Worte gefasst.
„Das Geheimnis“, bringt es Ashkenazy auf den Punkt, „liegt in der Liebe zum Detail.“ Seine Liebe hat an diesem Vormittag der Flügel mit der Nummer 595-364 gewonnen. „Wie gut, dass das Instrument nicht nach China geht – dort steht die 4 für Tod“, merkt Glaner erleichtert an, als er das „Selected“-Schild auf den polierten schwarzen Korpus stellt. Für den Pianisten indes ist die Nummerierung ein gutes Zeichen: „KV 595 ist mein Lieblingskonzert von Mozart – von daher kann es keinen besseren Flügel geben.“