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Der Musikversteher: Kit Armstrong im Interview
Kit Armstrong im Interview: Mit zehn konnte er Sinfonien nach einmaligem Lesen aufschreiben, heute ist der 24-jährige Pianist und Komponist auf den Konzertpodien der Welt zu Hause, so auch beim Mozartfest.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:53 Uhr

Gerade war er „Artiste étoile“ beim Mozartfest, inzwischen ist er beim Festival Mecklenburg-Vorpommern, dazwischen hat er schnell nochmal daheim vorbeigeschaut, in Hirson in Nordfrankreich, wo er eine ehemalige, 1929 gebaute Art-Déco-Kirche gekauft hat, die er in einen Konzertsaal umwandelt. Der 24-jährige Pianist und Komponist Kit Armstrong, als Kind taiwanesischer Eltern in Los Angeles geboren, hat heute einen britischen Pass. Zuhause fühlt er sich aber offenbar vor allem auf der Konzertbühne. Im Telefoninterview verrät er, warum das sogar für den Kaisersaal der Residenz gilt, der ob seiner schwierigen Akustik oft kritisiert wird.

Frage: Mozartfest bedeutet immer auch Auseinandersetzung mit Mozart. Haben Sie dabei für sich eine neue Mozart-Erkenntnis gewonnen?

Kit Armstrong: Ich war diesmal an sieben Konzerten beteiligt, und jedes Konzert ist aufschlussreich. Und jedes Mal, wenn ich ein Mozart-Klavierkonzert spiele, lerne ich etwas. Vor allem, wenn ich die Kadenz improvisiere. Auf der Tournee mit dem Schottischen Kammerorchester habe ich das vier- oder fünfmal gemacht, wir haben ja nicht nur in Würzburg gespielt. Aber man kann einfach nicht sagen, „da habe ich etwas gelernt, da nicht“.

Überraschen Sie sich manchmal selbst, wenn Sie improvisieren?

Armstrong: Ja. Aber man müsste die Idee von Überraschung besser definieren. Kommt eine Überraschung nur, weil man nicht weiß, was kommt? In diesem Falle: ja. Wenn ich improvisiere, weiß ich ja tatsächlich nicht, was kommen wird. Oder definiert man im engeren Sinne, dass etwas überraschend ist, wenn etwas ermöglicht wird, was man bisher für unmöglich gehalten hatte? Das kann man nicht in jeder Aufführung erwarten. Aber man sucht natürlich nach solchen Momenten.

Es ist wieder einmal diskutiert worden, ober der Kaisersaal mit seiner Akustik überhaupt für Orchesterkonzerte geeignet sei. Wie sehen Sie das?

Armstrong: Es war spannend, und am Ende war es unglaublich schön. Es wird uns Musikern mit dem Saal eine Art ungelöstes Problem präsentiert. Und ich glaube, wir haben es gelöst.

Man kann also mit der Akustik zurecht kommen, man muss sich nur drauf einstellen?

Armstrong: Ja, nicht nur. Die Musik als akustisches Ergebnis ist immer ein Zwischenspiel zwischen dem, was die Musiker machen und dem, was der Saal will. Wie der Saal reagiert. Im Kaisersaal fühlt es sich wie ein Gespräch an zwischen Musizierenden und dem Saal. Und ich bin sehr froh, solch einen Gesprächspartner zu haben. Im Fürstensaal haben wir das Problem nicht so gut gelöst.

Glenn Gould hat einmal gesagt, Mozart sei eher zu spät gestorben als zu früh. Ich nehme an, Sie sind nicht dieser Meinung?

Armstrong: Ich bin zu sehr Verstandesmensch, um glauben, dass es jemals eine Musik geben wird, mit der ich hundertprozentig einverstanden bin. Vielleicht bin ich da in diesem Beruf in der Minderheit, weil ich schon oft höre, dass ein Stück „perfekt“ sei. Ich glaube daran nicht. Ich glaube auch nicht, dass ein Komponist sich das zum Ziel setzen sollte. Andererseits hat man gewisse Sympathien, während man sich ständig selbst weiterentwickelt.

Das heißt, diese Sympathien verändern sich?

Armstrong: Was man in der Musik für gut hält, wird beeinflusst von dem, was man hört und worüber man nachdenkt. Es ist sicher, wenn Mozart früher gestorben wäre, hätten wir ein anderes Bild von seinem Schaffen. Ich bin auch ziemlich sicher, dass, wenn er später gestorben wäre, die Musik des 19. Jahrhunderts grundsätzlich anders ausgesehen hätte.

Wie würden Sie sich diese Musik vorstellen?

Armstrong: Ich persönlich mache kein Geheimnis daraus, dass ich mit der Weiterentwicklung der Musik nach Mozart nicht unbedingt einverstanden bin. Dieses ganze romantische Ideal ist nicht das, was mich bei Musik insgesamt reizt.

Wo setzt Ihr Interesse oder Ihr Herz wieder ein – in der nachromantischen Zeit, in der Gegenwart?

Armstrong: Das kann man auch schwer sagen. Natürlich gibt es große Höhepunkte, auch in der romantischen Musik. Aber ich spreche jetzt vom Ideal in dieser Musik. Das ist das, womit ich nicht unbedingt einverstanden bin. Aber die Musik selbst – wenn ich etwa eine Sinfonie von Edward Elgar höre, dann gibt es da schon Momente, wo ich innerlich weinen muss.

Glenn Gould hat – zu aller Überraschung – gesagt, sein Lieblingskomponist sei nicht Bach, sondern Orlando Gibbons. Haben Sie einen Lieblingskomponisten?

Armstrong: Ich muss mich sehr oft an die Tatsache erinnern, dass die Kunst aus Kunstwerken besteht und nicht aus Künstlern. Natürlich ist es reizvoll zu sagen, alles, was dieses oder jenes Genie gemacht hat, sei das Höchste in der Kunst. Aber das möchte ich bei Musik nicht sagen, weil man sonst die Werte der Einzelstücke unterschätzt. Für mich muss jedes Stück etwas Neues beitragen. Etwas machen, was noch nicht da war, noch nicht zum Ausdruck gebracht wurde. Aber das ist natürlich im Auge des Betrachters.

Gibt es ist diesem Sinne das berühmte eine Stück, das Sie auf eine Insel mitnehmen würden?

Armstrong: Es gibt viele Stücke, die ich auf den ersten Blick sehr gerne mitnehmen würde. Aber dann sage ich mir: Eigentlich müsste ich Stücke mitnehmen, die ich noch nicht kenne. Die Stücke, die ich kenne, die kann ich jederzeit abrufen. Ich hätte jetzt spontan gesagt, die vierstimmige Messe von Francis Burt. Aber dann denke ich, ich kenne schon jede Note von dieser Messe, die brauche ich nicht mitnehmen. Ich möchte lieber etwas mitnehmen, das ich überhaupt nicht kenne, damit ich mich damit beschäftigen kann.

Was wäre denn so ein weißer Fleck in Ihrer musikalischen Welt?

Armstrong: Das Spätwerk von Beethoven, zum Beispiel. Da ist für mich der Funke noch nicht übergesprungen. Ich sehe, dass es sehr gut gemacht ist, aber wenn ich zum Beispiel den „Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“ im Streichquartett op. 132 höre, dann kann ich nachvollziehen, dass das für einen Menschen unglaublich berührend sein kann, aber wenn ich mich selbst in der Tiefe des Herzens frage, ob ich etwas spüre, dann muss ich nein sagen. Und das möchte ich gerne ändern.

Ich würde dieses Stück auch mit auf die Insel nehmen – aber aus gegenteiligem Grund: weil ich es liebe, aber eben nicht so einfach abrufen kann. Sie scheinen ein phänomenales Gedächtnis zu haben. So kommen selbst in den Proben ohne Noten aus, haben offenbar jeden Takt im Kopf. Wie machen Sie das?

Armstrong: Da gibt es viele Vorgänge, die alle eine gewisse Rolle spielen. Ich kann vielleicht mit überdurchschnittlicher Geschwindigkeit etwas auswendig lernen. Wenn ich also zum Beispiel Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“ auswendig lernen möchte, könnte ich das. Das Stück ist ja nicht so kompliziert, weil es sich immer wiederholt.

Aber das könnte ja gerade schwierig sein.

Armstrong: Ja, das stimmt. Das muss man dann ohne Emotion lösen: Man schreibt auf einen Zettel, diese oder jene Phrase kommt jetzt 18 Takte lang, und dann 16 und so weiter. Dann liest man das fünfmal, dann kann man es. Aber das ist ein bewusster Vorgang, den ich bei Mozart ehrlich gesagt, nicht wirklich durchgemacht habe. Es gibt eine Sonate, wo ich ganz genau weiß, wie die Periodenlängen sind, weil ich das einmal lernen musste, als ich sehr jung war und den musikalischen Sinn noch nicht erfasst hatte. Aber bei den Liedern von Mozart ist die Musik für mich unvergesslich. Ich weiß einfach, wie ein Text von Mozart vertont wurde. Ich kann zum Beispiel eine beliebige Zeile aus dem „Veilchen“ nicht hören, ohne die Musik dazu im Hinterkopf laufen zu lassen.

Unvergesslich im wahrsten Sinne des Wortes also.

Armstrong: Es gibt sicher chemische Vorgänge, die das löschen würden, aber das habe ich noch nicht erlebt. Aber ich weiß, dass das Gedächtnis jetzt im Alter von 24 Jahren nicht mehr so funktioniert wie mit zehn. Ich würde mich jetzt nicht trauen, eine Sinfonie nach dem ersten Lesen aufschreiben zu wollen.

Aber mit zehn Jahren hätten Sie das gekonnt?

Armstrong: Ja, ich habe das sogar gemacht. Ich spreche jetzt von einer Mozart- oder Haydn-Sinfonie. Wo man als Zuhörer alles wahrnehmen kann. Nicht von einer Sinfonie, wo so dicht komponiert wurde, dass nur ein Klangrausch entsteht und nicht mehr ein verständlicher Text. Ich könnte das vielleicht heute noch machen, aber ich hätte nicht mehr die Sicherheit von damals.

Was ist Ihr nächstes größeres Projekt?

Armstrong: Gerade bin ich beim Festival Mecklenburg-Vorpommern. Wir spielen hier Kammermusik. Aber vorgestern war ich bei mir in Hirson in Frankreich. Das liegt in der Picardie, auf einer Linie zwischen Paris und Brüssel. Ich habe dort eine ehemalige Kirche gekauft, die sonst zerstört worden wäre. Das Projekt ist, sie in einen Konzertsaal umzuwandeln.

 
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