
Das hohe C. Für die Stimme eines Tenors kann es mörderisch sein. Selbst die ganz Großen der Zunft kriegen weiche Knie, wenn dieser Ton droht. Plácido Domingo ließ sich eine Arie lieber mal einen Halbton tiefer setzen als ein Risiko einzugehen, wie Daniel Snowman in seiner Biografie des Star-Tenors schrieb. Heilige Kuh der Stimmakrobatik-Jünger ist die Stretta „Di quella Pira“ aus Giuseppe Verdis „Troubadour“. Als an der Mailänder Scala ein Tenor den Spitzenton verweigerte – Riccardo Muti hatte das so entschieden –, hagelte es Buhrufe. Grotesk: Tenor und Dirigent hatten das getan, was auch Verdi gewollt hatte. Denn der hatte ursprünglich gar kein hohes C in die Stretta geschrieben. Das Publikum will es trotzdem hören. Immer wieder und auch heute noch.
„Das hohe C ist ein absurder Fetisch“, sagt Endrik Wottrich. Der international gefragte Tenor hat prinzipiell nichts gegen Spitzentöne. Die sind schließlich ein Mittel, um Seelenzustände einer Opernfigur in Musik umzusetzen. Aber: „Das C ist heute ein C plus“, erklärt der Professor der Würzburger Hochschule für Musik: „Die Stimmung ist heute höher als zu der Zeit, als diese Musik komponiert wurde.“ Ende des 18. Jahrhunderts einigte man sich auf 409 Schwingungen pro Sekunde (Hertz) für den sogenannten Kammerton, das eingestrichene A. Seit 1939 gelten 440 Hertz. Das A liegt also über einen Halbton höher, und mit ihm stiegen – logisch – alle anderen Töne. Zudem halten sich viele moderne Orchester nicht an den Standard-Kammerton. In deutschen und österreichischen sind 443 Hertz üblich. Die Wiener Philharmoniker liegen noch höher. Wer heute in der Stretta ein H singt, singt also einen Ton, der zu Verdis Zeiten wohl als hohes C durchging. Die höhere Stimmung soll den Klang brillanter machen. Für die über Jahrhunderte weiterentwickelten Instrumente ist das kaum ein Problem. „Aber Stimmbänder und Biomechanik der Sänger haben sich nicht verändert“, sagt Wottrich. Und nicht nur die Stimmhöhe wird zum Problem für Sänger: „Wenn das Orchester aufdreht, hat man keine Chance. Orchester sind heute lauter als zu Verdis Zeit.“ Zu hoch, zu laut: „Dieses ständige Außerhalb-der-Spur-Singen“ des modernen Opernbetriebs habe schon manchen seiner Kollegen ruiniert.
„Jeder muss selbst herausfinden, wo seine Grenzen liegen“, sagt Wottrich. Nicht jeder Tenor sei schon rein physisch in der Lage, bis zum C zu steigen. Grundsätzlich seien volle, kräftige Tenorstimmen mit „bedeutender Mittellage“ weniger geeignet, das heutige C zu erklimmen. „Ohne ausgefeilte muskuläre Kontrolle wird der Stimme bei zu viel Druck Schaden zugefügt“, erklärt Wottrich. Für viele ist einen Halbton früher Schluss. Und: „Wer in der Öffentlichkeit ein C singen will, muss auch ein Cis draufhaben – und kriegt meinetwegen auch ein schlechtes D hin.“ Wottrich selbst ist in der Lage, den Mount Everest der Tenöre zu erklimmen. Leicht war der Weg nicht: „Es hat lange gedauert, bis das C stimmgesund produziert werden konnte.“
Für den vor allem als Wagner-Interpret international geschätzten Sänger markiert das hohe C nur die Spitze des Problembergs. Dem 49-Jährigen geht es um mehr als nur um einen hohen Ton. Für ihn ist die Musik eng mit der Existenz und der menschlichen Befindlichkeit verknüpft. Wottrich geht es auch um Grundsätzliches. Den Hype um das hohe C und die immer höhere Stimmung sieht er als Symptom unserer Zeit. „Es geht immer nur um Geld, um die Show, um den gleißenden Effekt. Unsere Ohren werden immer unempfindlicher. Wir wollen immer mehr Obertöne hören. Um einen Reiz zu erzielen, wird alles immer schriller – und flacher. Wir haben verlernt, das Beruhigende, das Tiefe auch in einem Ton als unser Fundament zu sehen.“
Die Beziehung zum Naturton und seiner eigenartigen Charakteristik der Naturtonreihe sei verloren gegangen. „Früher hat man grundsätzlich mehr mit dem gelebt, was wir Natur nennen. Das sehen wir in allen Bereichen unserer Existenz. Je weiter wir uns von der Natur entfernen, umso kränker werden die Menschen.“ Es gehe doch in der Oper nicht um oberflächliche Schönheit und Gefallsucht. Es gehe um die „Darstellung einer geistigen Welt“. Kunst, grübelt Endrik Wottrich, müsse die Gesamtheit der Seele erfassen – „sie kommt immerhin aus ihr“.
Wottrich fürchtet, mit seinem Plädoyer gegen die Flachheit und Unnatürlichkeit des modernen Musikbetriebs auf verlorenem Posten zu stehen. „Wenn ein Sänger heute zu viel geistige Leistung einbringt, wird er als schwierig empfunden.“ Die „Perversion“ einer Dramaturgie, die das Stück nicht respektiere, „ist per se anti-natürlich“.
Die Jünger der Stimmbandakrobatik ficht derlei Philosophiererei nicht an. Sie wollen ihr hohes C hören, wollen in der Stretta den Sänger beobachten wie einen Artisten im Zirkus – mit dem Nervenkitzel, dass es auch schiefgehen kann. Dabei hören oft nicht einmal Kenner den Unterschied zwischen dem C und dem etwas gemäßigteren H: Als Jonas Kaufmann voriges Jahr in München den „Troubadour“ sang, wurde sein C auch von Kritikern bejubelt. Später stellte sich heraus, er hatte - obwohl er das C generell beherrscht - „nur“ das H gesungen . . .