Vor über einem halben Jahr stieß Claudia Lichte, Riemenschneider-Expertin und stellvertretende Direktorin des Mainfränkischen Museums, auf den vergilbten Zeitungsartikel. Dieser befindet sich in einer der 155 Mappen, die Justus Bier dem Museum hinterlassen hat. Im Nachlass des Riemenschneider-Forschers suchte Claudia Lichte im Zuge der Vorbereitungen für die Ausstellung im kommenden Jahr (siehe unten stehenden Artikel) eigentlich nach Angaben über ein anderes Riemenschneider-Werk aus Ochsenfurt: nach dem Lüsterweibchen. Und entdeckte die alte Nachricht.
Zusammen mit Ochsenfurts Bürgermeister Peter Wesselowsky schaute sich Lichte den Kopf am Fuß der Turmuhr an. Das war im Herbst 2002. Die Holzplastik, die zu jeder vollen Stunde ihren Mund öffnet und schließt, wird aufgrund einer Jahreszahl im Windrad der Uhr um 1505 datiert. Heute präsentiert sich der Kopf in neuen Farben. Er hatte gerade eine neue Fassung erhalten: Und was als Glück für die weitere Erhaltung der Figur angesehen werden kann, war Pech für den Restaurator des Mainfränkischen Museums: Die anschließende Untersuchung des Kopfes gestaltet sich für Manfred Schürmann schwierig. Dennoch: "Es spricht vieles dafür, dass der Kopf aus der Werkstatt Riemenschneiders ist", meint Claudia Lichte. Nicht ganz zwei Tage hat Restaurator Schürmann die Plastik untersucht. Wegen der neuen Fassung waren aber nur eingeschränkte Einblicke ins Innenleben des Kopfes möglich. Da sie nicht geöffnet wurde, sind nur bedingte Aussagen über den Erhaltungszustand des Holzes möglich, sagt Schürmann. Er konnte stichpunktartige und millimetergroße Öffnungen unter dem Mikroskop begutachten. Das Ergebnis: Die neue Fassung ist nicht die einzige Farbschicht, die auf dem Holz aufgetragen ist. Es gibt "mehrere Anstrichreste". Beispielsweise am Bart. Darüber hinaus durfte auch die neue Rückplatte des Kopfes nicht entfernt werden, ohne dass die neue Fassung beschädigt worden wäre. Andernfalls wären Aussagen über die Aushöhlung möglich gewesen, wenn es denn eine gibt. So konnte man zum Beispiel bei der anderen Riemenschneider-Neuentdeckung im Mainfränkischen Museum - beim Hl. Sebastian - auf der Rückseite an der Aushöhlung erkennen, dass es sich ursprünglich bei dem Fragment um eine Ganzfigur gehandelt hat (wir berichteten). Manfred Schürmann stellte beim Ochsenfurter Kopf lediglich fest, "dass es neue und alte Teile" und "sekundäre Anstückungen" gibt. Gemeint sind spätere Ergänzungen oder Ausbesserungen. So ist die Rückplatte aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert, ebenso das Dach. Wie die ursprüngliche Formgebung war, bleibe unklar, so Schürmann in seinen Untersuchungsbericht. Zudem sind die Locken des Kinnbartes auf der linken und rechten Seite vollständig ergänzt. Auch "im Bereich des Beckenbartes sind kleinere Partien vollständig ergänzt, größere Partien offensichtlich überarbeitet". Dies erkannte Schürmann an den scharfgeschnittenen Graten.
Als originalen Bestand sieht Schürmann aber die verwitterte Mittelpartie samt Unterlippe an. Und die Backenkappe bezeichnet er als "nahezu unüberarbeitet". Wie sich dies beim rot-grün gefassten Hut verhält, "ist nicht zu beurteilen".
Einige Details sind dagegen unverkennbar von Riemenschneider, kehren in seinem Werk immer wieder: zum Beispiel der Hemdknopf im Brustbereich, der durch Auskerbung modelliert ist. "Knopf mit Schlitz, das gibt es immer bei Riemenschneider", sagt Claudia Lichte. Als gutes Zeichen wertet Schürmann auch, dass unter dem Mikroskop erkennbar war, dass die plastischen Details in Gesicht und Haarbildung im Holz angelegt sind, und nicht mit der Grundierungsmasse modelliert wurden. Weitere typische Riemenschneider-Elemente sind zudem die Falten im Augenbereich , die leicht gebogene Nase mit schmalem Rücken und die gesträhnten Locken in Bart- und Haupthaar.
Ob in naher Zukunft eine tiefer gehende Untersuchung möglich ist, steht nicht fest. Sicher ist jedoch, dass der Stadtrat Ochsenfurts entschieden hat, den "Bürgermeisterkopf" für die Riemenschneider-Ausstellung nach Würzburg auszuleihen. Dort fertigt während der Ausstellungszeit in der Schönbornhalle ein Bildschnitzer eine Kopie an. Danach können sich die Ochsenfurter dann "überlegen, was sie machen: das Original nach innen hängen und die Kopie an den Turm". Beispielsweise. Vielleicht bleibt er ja auch als Leihgabe im Museum, wie der Hl. Sebastian aus Privatbesitz.