
Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt. Das ist nicht von Sophokles, der ja gleichsam am Beginn der Geschichte steht, zumindest aus heutiger Sicht. Das ist von Mahatma Gandhi, aber es passt mit beängstigender Präzision auf die 2500 Jahre alte Sophokles-Tragödie „Antigone“ – und das ganz ausdrücklich aus heutiger Sicht.
Es hat deshalb etwas Befreiendes, dass die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten schon im Programmheft erwähnt wird, als eines von vielen Indizien für den krisenhaften Zustand des Systems Demokratie – der Zuschauer kann diesen Punkt also abhaken und sich auf den Stoff als solchen konzentrieren.
Kreon ist sich seiner Macht unsicher - und das macht ihn gefährlich
Auf dessen zeitlos menschliche Dimension, auf die ethischen Aspekte, auf die persönlichen Konflikte. Ramin Anarakis Inszenierung der „Antigone“, die am Samstag im Mainfranken Theater Würzburg Premiere hatte, ist Theater pur. Sie ist politisch relevant („Antigone“ kann man vermutlich gar nicht anders inszenieren), vor allem aber ist sie ganz nah an den Individuen.
Kreon ist auf den Thron Thebens gelangt, weil die beiden Thronfolger Eteokles und Polyneikes, seine Großneffen, einander im Krieg um Theben erschlagen haben. Einer auf Seiten des Staats, der andere auf Seiten der vorgeblichen Feinde des Staats.
Dieser Kreon ist anfangs gar nicht mal unsympathisch. Aber er ist sich seiner Macht unsicher, und das macht Machtmenschen in aller Regel noch gefährlicher. Weil sie ihre Herrschaft mit brutalen Dekreten einläuten. Im Falle Kreons ist das ein Bestattungsverbot für den vorgeblichen Staatsfeind Polyneikes – ein Sakrileg und eine Unmenschlichkeit, weil dieser dadurch nicht im Hades weiterleben kann. Georg Zeies spielt einen Kreon, der ständig auf der Kante zwischen Mitgefühl und wahnhaftem, scheinrational als Staatsräson begründetem Machtexzess balanciert.
Die Plastikvorhänge erinnern an ein Schlachthaus
Ihm gegenüber Antigone, die gegen das Bestattungsverbot verstößt. Helene Blechinger spielt sie als eine Art Fundamentalistin der Menschlichkeit – kompromisslos, leidenschaftlich und im Grunde nicht weniger einschüchternd als Kreon.
Dominik Steinmanns Bühne aus Vierkant-Stahlrohren erinnert an das antike Bühnenhaus, die transparenten Plastikvorhänge, durch die immer wieder Körper – tote und lebendige – getragen werden, allerdings eher an ein Schlachthaus. Dieses Theben ist ein trostloser Ort. Eine Arena, in der ein orangener Plastikstuhl die einzige, karge Möglichkeit des Verweilens bietet. Kreons Waffenbrüder, die auch den Chor bilden, wirken in grauer Kluft und Springerstiefeln wie ein dubioser Sicherheitsdienst – Qualifikation und Legitimität eher unklar.
Besonders spannend sich die Momente persönlicher Not
Natürlich ist „Antigone“ ein Stück über den Widerstreit von Rechtsgrundsätzen. Über persönliche Integrität und Opferbereitschaft. Über das Recht auf oder die Pflicht zum Widerstand gegen einen Unrechtsstaat. Aspekte, die in Hülle und Fülle im Text vorkommen.
Spannender aber sind in Ramin Anarakis Deutung die Momente persönlicher Not, weil sie mindestens ebenso so aussagekräftig sind.
Etwa wenn Kreons Sohn Haimon (Bastian Beyer) sich durchringt, den Schutzraum Familie zu verlassen und aus der Position scheinbarer Unterwerfung heraus doch den Vater attackiert: „Huldige dem Wahn im Kreis von Freunden, die daran Gefallen finden!“ Oder wenn Antigone im Angesicht der Vernichtung mit dem eigenen Rigorismus hadert.
Die Figur des Kreon ist weit interessanter als viele ihrer Nachfolger
Und dann immer wieder der Diktator Kreon. Georg Zeies verleiht ihm mehrere Schichten widerstreitender Motivationen, darunter eine offenbar nichteingestandene Sehnsucht nach Frieden und Harmonie. Somit ist seine Figur weitaus komplexer und interessanter als die meisten seiner Nachfolger auf den realen Politbühnen der Gegenwart. Denen man dennoch mit dem Chor zurufen möchte: „Nimm guten Rat an!“
Weitere Vorstellungen: 11., 15., 18., 25. Februar; 2., 3., 5., 8., 10., 19., 26., 29. März, 6. April, 16. Mai, 19.30 Uhr. 9. April, 15 Uhr. Karten Tel. (09 31) 39 08 124, www.mainfrankentheater.de