Wolfgangerl war ein Wunderkind. Das ist hinlänglich bekannt. Das gehört zur Legenge Mozart, zur Folklore nicht nur der Stadt Salzburg und irgendwie auch zu unser aller kollektivem Bewusstsein. Glaubt man Andreas Schachtner, Hoftrompeter und Freund der Familie Mozart, so machte dieses Wolfgangerl seine Umgebung immer wieder mit den erstaunlichesten Leistungen staunen. Etwa als es, ohne jegliche vorherige Unterweisung, auf seiner soeben geschenkt bekommenen Geige astrein die zweite Stimme eines Streichtrios mitspielte.
„Ich legte still meine Geige weg und sah Ihren Herrn Papa an, dem bei dieser Szene die Thränen der Bewunderung und des Trostes über die Wangen rollten“, schreibt Schachtner im April 1792, also ein halbes Jahr nach Wolfgang Amadés Tod, an dessen Schwester Nannerl. Diese hatte den Musiker gebeten, ihr doch aus der Kindheit des Bruders zu berichten.
„Mich hat diese Geschichte immer stutzig gemacht“, sagt Ulrich Konrad, Professor für historische Musikwissenschaft und Ordinarius für Musikforschung an der Universität Würzburg. Im Rahmen des Mozartfests beleuchtet Konrad an diesem Abend in der Vinothek des Staatlichen Hofkellers im Gespräch mit Intendantin Evelyn Meining die Frage der Reife – bei Mozart (1756-1791) als Künstler und bei seiner Musik. Musikbeispiele von Mozart, Bach und Strawinsky steuert das Akkordeon-Duo „Jeux d'Anches“ bei.
Der Historiker als Spielverderber
„Leute wie ich sind Spielverderber“, sagt der Historiker Konrad. Warum, so fragt er, braucht Nannerl den Zeitzeugen Schachtner, um etwas über Mozarts Kindheit zu erfahren? Maria Anna, genannt Nannerl, fünf Jahre älter als ihr Bruder, war ja dabei. Aber: „Ich habe in Ihre Gesichter geschaut, als Frau Meining diese Geschichte vorgelesen hat“, sagt Konrad ins Publikum, „und Sie sahen glücklich aus.“
Schachtner gehöre mit seiner „inszenierten Geschichte“ (Konrad) also zu denen, die mitmachten bei der Beglaubigung des Wunders Wolfgangerl. Denn schon in den späten 1780ern wusste kaum mehr jemand, wie alles angefangen hatte. Das Wunderkind hatte mit Vater und Schwester Europa bereist und an den Höfen brilliert, doch irgendwann wurde aus dem Wunderkind ein Mensch, in Mozarts Fall freilich ein weiterhin höchstbegabter Ausnahmekünstler.
Seine Tragik: Als putziges Wolfgangerl hatte er die High Society beglückt, für einen Musiker (für Kaiserin Maria Theresia alles „nutzlose Leute“) in abgesicherter Festanstellung hatte niemand Verwendung. Mozart selbst erinnerte sich kaum an seine frühen Werke – „und so blieb es bis ins 20. Jahrhundert“, sagt Ulrich Konrad. Die ersten 60 der 120 Bände der Gesamtausgabe stehen weiterhin meist ungeöffnet im Regal. „Das Frühwerk wird verehrt, aber abstrakt verehrt.“
Zu Mozarts Lebzeiten und lange danach wurde ohnehin immer nur zeitgenössische Musik gespielt, sagt Konrad. Vergangenes interessierte nicht, Bach und Händel waren aus der Mode gekommen, wenn nicht ganz vergessen. Als sein Förderer Gottfried van Swieten vorschlug, den „Messias“ aufzuführen, instrumentierte Mozart das Oratorium kurzerhand komplett um.
Genau so erging es übrigens seiner eigenen Musik: Als Johannes Brahms Clara Schumann vorschlug, ein Klavierkonzert von Mozart aufzuführen, lehnte die rundheraus ab. Die Oper „Mitridate“ des 13-jährigen Mozart, 1770 unter kolossalem Jubel in Mailand uraufgeführt, wurde dort nach der Premiere noch 25-mal gespielt. Dann war Schluss. Zum 27. Mal erklang „Mitridate“ erst 1970.
Für die Nachgeborenen wurde Mozart unter einem ganz anderen Aspekt wieder interessant: Als die Deutschen im 19. Jahrhundert in Ermangelung eines Nationalstaats begannen, die gemeinsame Geschichte über die Ahnenreihe großer Komponisten zu definieren, brauchten sie in diesem Pantheon Mozart. Und zwar wieder in seiner Funktion als Wunderkind: der Liebling der Götter, das Genie, dem alles mühelos zuflog, als Gegenpol zum ewig ringenden Titanen Beethoven. So schreibt jede Zeit ihr eigenes Mozartbild, sagt Ulrich Konrad: „Geschichte ist nicht, Geschichte wird gemacht. Was Menschen in der Geschichte suchen? Die Bestätigung ihrer Gegenwart.“
Mozart hat das Beste in allem erkannt
Das – wenn man so will – Ironische am Phänomen Mozart ist, dass das Wunderhafte, das Unerklärliche, das frühere Generationen aus einem Hang zu Verklärung und Romantisierung so betonen, auch unter wissenschaftlichen Bedingungen Bestand hat. Mozart war wohl der Mensch, der am meisten der Musik seiner Zeit kannte. „Mozart hat das Beste in allem erkannt und in idealer Weise zusammengeführt“, sagt Ulrich Konrad.
Der Begriff Eklektizismus ist heute denkbar negativ belegt, beim Philosophen Diderot (1712-1784) aber gilt „Éclectisme“ noch als vollkommen legitimes Vorgehen, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen.
Mozart kann alle Stile nachahmen, kann so schreiben, dass der Laie wie der Fachmann gefangen ist, und ist doch immer Mozart. „Wir atmen, Mozart hat geatmet und Musik gemacht“, sagt Ulrich Konrad. Seine Reisen, sein phänomenales Gehör und sein grenzenloses Gedächtnis erlaubten es ihm, riesige Depots anzulegen. „Was nicht erklärbar ist, ist dass er in seinem Kopf die Kraft findet, das alles zu verbinden, ohne dass ein Sammelsurium daraus wird“, sagt Konrad.
Beispiel „Zauberflöte“, heute Inbegriff des wilden Stilmixes: Mozart verarbeitet unterschiedlichste Elemente, von der – längst abgemeldeten – Opera seria über Gassenhauer bis hin zum bachschen Kontrapunkt. Da staunt eben auch der Wissenschaftler: „Dinge, die nicht zusammengehören, bilden hier eine Einheit. Wir können die Bestandteile benennen, aber das, was sie verbindet, zusammenhält, das entzieht sich einer wissenschaftlichen Beschreibung.“
Bleibt noch die Frage – auch eine dieser Legenden –, ob Mozart irgendwie sein frühes Ende kommen sah. Ulrich Konrad glaubt nicht daran und hält zum Beweis das Faksimile von Mozarts eigenhändigem Werkverzeichnis hoch – darin ist Platz für 70 weitere Werke. Mozart konnte sie nicht mehr schaffen. Aber es gibt einen Nachfolger: „Beethoven knüpft bis zum Schluss an Mozart an“, sagt Konrad, „es wird immer von der ,neuen Harmonik‘ Beethovens gesprochen. Da ist nichts neu.“