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NÜRNBERG
Das Rennen um die Realität
Trugschluss: Erfasst ein Foto die Wirklichkeit besser als ein Gemälde? Die Antwort scheint offensichtlich: Ja! Doch so einfach ist es nicht. Und das hat viel mit unserem Gehirn zu tun.
Das Gemälde zeigt nicht die Wirklichkeit: Franz Krüger malte 1851 ein galoppierendes Pferd mit vier gestreckten Beinen.
Foto: GNM | Das Gemälde zeigt nicht die Wirklichkeit: Franz Krüger malte 1851 ein galoppierendes Pferd mit vier gestreckten Beinen.
Ralph Heringlehner
Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:39 Uhr

Die Sensation war perfekt. 1839 hatte der Franzose Louis Daguerre eine Möglichkeit gefunden, die Welt abzubilden. Ohne Pinsel, ohne Farbe, ohne den langwierigen Prozess des Malens. Fotografieren – was auf Deutsch etwa „mit Licht zeichnen“ bedeutet – ging vergleichsweise schnell. Und bildete zuverlässig ab, was sich vor der Linse befand.

Die ersten Daguerreotypien, wie die frühen Fotos genannt werden, erschütterten die Kunstwelt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Maler und Fotografen stritten sich: Wer konnte die Wirklichkeit besser fassen? Und: Musste man sie überhaupt fassen? Manche Künstler sagten „Nein“ und malten nichtgegenständlich oder negierten als Surrealisten die Strukturen der Realität komplett . . .

Doch wie immer sie auch reagierten: Die Maler waren letztlich machtlos. Daguerres Erfindung veränderte die Welt: Heute sind wir von Fotografien umgeben, im Haus, auf der Straße, im Büro. Praktisch jeder fotografiert selbst.

Fotografien gelten als dokumentarisch. Wir glauben sie zeigen die Wirklichkeit. Wir vertrauen ihnen. Wenn wir uns da bloß nicht täuschen! Denn längst werden wir von Fotografien manipuliert. Von Werbebildern, die so tun, als sei Rauchen cool. Oder als mache Schokolade nicht dick, sondern sei ein unverzichtbares Genussmittel für alle, die schlank und sportlich sein wollen.

Spätestens seit ein Krieg mit Fotos von nicht existenten Chemiewaffenfabriken begründet wurde, sollten wir wissen: Der Glaube an die Unbestechlichkeit der Fotografie kann sogar gefährlich werden.

Gemälde gelten nicht als dokumentarisch. Kaum einer sieht in ihnen ernst zu nehmende Abbilder der Wirklichkeit. Hätten die Amerikaner zur Begründung von George W. Bushs Irakkrieg statt Fotos Gemälde von Chemiewaffenfabriken vorgelegt, die Welt hätte gelacht.

Die Ausstellung „Licht und Leinwand“ im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (siehe Infobox unten) thematisiert das Verhältnis von Malerei, Fotografie und Realität. Wer die Reihen der 260 Ausstellungsstücke entlangschlendert, begreift auch: Manchmal kann das mit Pinsel und Farbe erzeugte Bild mehr Wirklichkeit fassen als ein Foto. Weil Wirklichkeit nicht nur Oberfläche ist. Weil Maler tiefer blicken können als die Linse einer Kamera.

Jules Lunteschütz' Porträt von Arthur Schopenhauer zeigt den Philosophen durchgeistigt bis in die weißen Haarspitzen. Die Augen leuchten ironisch. Der Mund lächelt überlegen, vielleicht auch ein bisschen verächtlich. Lunteschütz war mit Schopenhauer befreundet. Er kannte das Wesen des Philosophen ebenso wie dessen Werk. Dieses Wissen floss in das Porträt ein. Gute Porträtisten zeigen nicht nur das Sichtbare, sondern auch Geist und Seele ihres Modells. Der Maler kann ein ganzes Leben in ein Porträt packen – und damit mehr Wirklichkeit als eine Kamera. Die liefert nur die Momentaufnahme eines Menschen.

Der Brite Eadweard Muybridge (1839 bis 1904) wollte nicht nur einen einzigen Augenblick einfangen. Er versuchte, durch Fotoserien, möglichst viel Wirklichkeit auf die Platte zu bannen. 1887 erregte seine Serie eines galoppierenden Pferdes Aufsehen: Die quasi eingefrorenen Bewegungsabläufe bewiesen, dass Pferdemaler jahrhundertelang falsch lagen. Denn auf zahllosen Gemälden galoppieren Pferde mit vier nach von und hinten gestreckten Beinen. Muybridge zeigte jedoch, dass das in keiner einzigen Phase des Galopps der Fall ist. Keine Frage: Hier hatte der Fotograf das Rennen um die Darstellung der Wirklichkeit gewonnen.

Allerdings: Auch die Serien des britischen Pioniers, der auch andere Tiere in Bewegung fotografierte, sind manipuliert. Da sind etwa Hintergründe „gerichtet“, einzelne Bilder wurden weggelassen; Serien wurden durch Einzelaufnahmen ergänzt oder umarrangiert. Also lieferte auch Muybridge keine Realität, sondern seine Version davon.

In unserem Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung ist es mit der vermeintlichen Objektivität der Fotografie ohnehin vorbei. Es gibt wohl kaum ein Bild, bei dem nicht die Farbsättigung verändert, der Kontrast verstärkt oder Konturen nachgeschärft werden. Fotos werden dem Bild angepasst, das der Fotografierende von seinem Motiv hat. Sie zeigen seine subjektive Sicht auf die Wirklichkeit.

Wirklichkeit – was ist das überhaupt? Jedenfalls nichts, das irgendwo so existiert, wie wir es wahrnehmen. „Unsere Wahrnehmung hat weniger mit dem zu tun, was da draußen passiert und mehr mit dem, was sich in unserem Gehirn abspielt“, schreibt der Neurowissenschaftler David Eagleman in seinem Buch „The Brain“ (Pantheon-Verlag). Denn „da draußen“ gebe es keine Farben, keine Gerüche, keine Klänge, nur „Energie und Materie“. „Unsere Wirklichkeitserfahrung ist das große Kunstwerk unseres Gehirns“ – und kein objektives Bild der Welt. Noch dazu habe jedes Gehirn „seine eigene Wahrheit“.

So gesehen, kann weder der Fotograf noch der Maler die Wirklichkeit objektiv fassen. Weil kein Mensch mit seinen Sinnen an sie rankommt. Und womöglich gibt es außerhalb unseres Gehirns ja überhaupt keine objektive Realität. Auch das hat mancher Philosoph im Lauf der Geistesgeschichte schon behauptet.

Ausstellung in Nürnberg

„Licht und Leinwand“ heißt eine Sonderausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Zu sehen sind Bilder und Gemälde, die das Verhältnis zwischen Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert darstellen. Es geht auch um den Umgang der beiden Medien mit der Wirklichkeit und die Etablierung der Fotografie als Kunstform.

Gezeigt werden rund 260 Ausstellungsstücke. Darunter sind Bilder von Malern wie Lovis Corinth, Carl Spitzweg, Eduard Schleich, Honoré Daumier und Franz von Lenbach.

Gegliedert ist die Schau thematisch in neun Stationen. So stehen sich Fotografie und Malerei etwa in den Bereichen Porträt, Akt und Landschaftgegenüber.

Eine amüsante Attraktion der Ausstellung ist die Fotobox, in der der Besucher wie zu frühen Fotografiezeiten 15 Sekunden vor der Kamera still sitzen muss – eine Nackenstütze hilft dabei. Nach zwei Minuten „Entwicklungszeit" erscheint eine Daguerreotypie auf einem modernen Touch-Screen, die sich per Mail verschicken lässt.

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10–18, Mittwoch bis 21 Uhr. Bis 9. September.

Der Katalog mit mehr als 300 Seiten und Abbildungen aller ausgestellten Werke kostet 28 Euro. im Museum (sonst 37 Euro)

Zeigt das Foto die Wirklichkeit? Eadweard Muybridges Fotoserie „Galopping“ von 1887. In keiner Phase streckt das Pferd alle vier Beine aus.
Foto: Rijksmuseum Amsterdam | Zeigt das Foto die Wirklichkeit? Eadweard Muybridges Fotoserie „Galopping“ von 1887. In keiner Phase streckt das Pferd alle vier Beine aus.
 
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