Dieses Bühnenbild! Zuerst einmal muss eine Hymne angestimmt werden auf das Werk der Bühnen- und Kostümbildnerin Pia Greven in Nicolas Charaux' Meininger Inszenierung von "Vor Sonnenaufgang". Gespielt wird nicht Gerhart Hauptmanns Sozialdrama von 1889, sondern dessen "Überschreibung" durch den österreichischen Autor Ewald Palmetshofer von 2017.
Eine riesige Erdhalde. In den Boden gerammte Stützpfeiler. Ein Loch für den künftigen Swimming Pool. Plastikplanen allerorten. Eine Tischtennisplatte. Die halbfertige Küche unten im Orchestergraben. Das Geschehen von dort wird live zugeschaltet, mit einer Kamera, deren Bilder auf eine große Bautafel projiziert werden – treffendes Symbol für den Bühnennaturalismus anno 2022. Man glaubt, vom Theaterhimmel herunter das Raunen und Staunen des Theaterherzogs zu hören, des großen Förderers naturalistischer Dramatiker vor 150 Jahren. Ende der Hymne.
Der Mensch ist innerlich zerrissen wie eh und je
An der Zerrissenheit des Menschen hat sich seither offensichtlich nichts Substantielles geändert. Das hausgemachte Grauen mit seinen großen und kleinen Dämonen zernagt nach wie vor das, was sich der Mensch in seiner tiefsten Seele wünscht: Harmonie. Liebe. Lust. Und Anerkennung. Die Verfassung des Theaterpublikums allerdings hat sich seit damals enorm verändert. Während es nach der Uraufführung zu tumultartigen Protesten im Saal kam, gibt es heute stürmische Beifallsbekundungen der Zuschauer, denen wieder einmal der berühmt-berüchtigte Spiegel vorgehalten wird.
In der Inszenierung geht es nicht um eine neureiche Bauernfamilie, sondern um die Seelenkatastrophen der mittelständischen Unternehmerfamilie Kraus der Gegenwart. Mit dem – leicht reduzierten – Personal wie bei Hauptmann: Michael Jeske spielt den Seniorchef, Anja Lenßen seine Frau. Larissa Aimeé Breidbach und Emma Suthe sind die Töchter aus erster Ehe: die hochschwangere Martha und die jüngere Helene. Gunnar Blume ist der Schwiegersohn und Stefan Willi Wang der Hausarzt. Zur Trunksucht der Familie gesellen sich nun Depression und – ganz aktuell: die zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft.
Wie sich zwei ehemalige Studienkollegen auseinandergelebt haben
In Palmetshofers Version treibt das Thema Alfred um, einen linken Journalisten (Lukas Umlauft). Nach zwölf Jahren klopft er an die Tür seines ehemaligen Studienkollegen, jetzt Krauses Schwiegersohn. Einst verband die beiden ein leidenschaftlicher Idealismus. Doch nun? Der Juniorchef scheint saturiert und engagiert sich in einer rechten Partei. Der Schwiegervater ist dem Suff erlegen, ebenso wie die depressive Tochter Martha. Ihre empfindsame Schwester Helene fühlt sich nur Alfred nahe. Beide erleben eine zärtliche Liebesnacht, in der das einzige Fünkchen Hoffnung keimen könnte...
Palmetshofer thematisiert die Polarisierung zwar, eine Erklärung komplexer Zusammenhänge liefert er jedoch höchstens durch die präzise Beobachtung von Milieu und Konversation in der Familie. Die Dialogsprache ist hinreißend lebendig. Man hängt zwei pausenlose Stunden lang an den Lippen der Handelnden, die keine Figuren mehr sind, sondern direkt dem Leben entsprungene Menschen zu sein scheinen. Ein wunderbar aufeinander eingestimmtes Ensemble! Hinter keiner Bewegung, keiner Geste, keinem Ausruf vermutet man eine Regieanweisung. Gespielt wird, wie man sich Naturalismus und Realismus auf der Bühne wünscht: Mit Herz und Seele und Verstand, ganz nah am richtigen Leben. Den nächsten Abgrund vor Augen.
Nächste Vorstellungen im Großen Haus: 29. Mai, 2. und 12. Juni, 13. Juli. Kartentelefon: (03693) 451 222. www.staatstheater-meiningen.de