Ein 18-Jähriger will dringendst die Unschuld verlieren, weitet den Alkoholkonsum drastisch aus, träumt von Ruhm als Schriftsteller und kämpft gegen den Schatten des Vaters. Das klingt als Romanstoff absolut nicht nach Neuland, und doch füllt der Norweger Karl Ove Knausgaard (45) damit in „Leben“ gut 600 Seiten auf eine Weise, die ihm auch aus New York hymnisches Kollegen-Lob eingetragen hat. Zadie Smith twitterte über ihr Lektüreerlebnis mit Knausgaards sechsbändiger Serie über das eigene Leben: „Unglaublich. Ich habe gerade 200 Seiten davon gelesen und brauche die Fortsetzung so dringend wie Crack.“
Jeffrey Eugenides begeisterte sich, dass Knausgaard das Gefühl vermittle, „man sauge das komplette Porträt eines ganzen Lebens in sich ein“. Jonathan Lethem bekannte: „Ich lese die Bücher wie unter Zwang. Ich kann einfach nicht aufhören.“ Die deutschsprachige Ausgabe ist mit „Leben“ beim vierten Band angekommen. Knausgaard schreibt über die zwei Jahre zwischen der Scheidung seiner Eltern, als er 16 war, bis zu einem Jahr als Aushilfslehrer an einem isolierten nordnorwegischen Nest gleich nach dem Abitur.
In radikaler Offenheit
Wie in den vorausgegangenen Bänden („Sterben“, „Lieben“, „Spielen“) offenbart der Autor in meist radikaler Offenheit, ohne irgendeine Wertung und in einfacher, klarer Sprache, was ihm erinnernswert ist. Dass der jedes Mal viel zu frühe Samenerguss dem Gymnasiasten und dem jungen Aushilfslehrer Knausgaard in dieser Zeit das existenzielle Grundproblem schlechthin war, wird mit derselben nüchternen Detailfreude beschrieben wie der Diebstahl von Geld des Bruders oder die Wandlung des Vaters vom allgegenwärtigen Haustyrannen zum immer mehr durchschauten Trinker in immer weiterer Ferne.
Knausgaard hat die einzigartige Fähigkeit, noch den letzten Alltagstrivialitäten erzählerisch so viel Leben und Sinn einzuhauchen, dass man einfach weiterlesen muss. Wer die narkotische Wirkung seines autobiografischen Monsterprojektes mit alles in allem 3000 Seiten erleben möchte, sollte auf jeden Fall mit den ersten beiden Bänden anfangen.
Karl Ove Knausgaard: Leben (Luchterhand, 624 Seiten, 22,99 Euro)