Unter den Top Ten der meistgeklickten Artikel auf der Homepage der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (gwup.org) finden sich sieben Beiträge über das Turiner Grabtuch. Das Tuch mit dem angeblichen Körperabdruck des gekreuzigten Jesu bewegt derzeit die Gemüter von Gläubigen und Zweiflern: Das geheimnisvolle Leinen wird, erstmals seit zehn Jahren, wieder der Öffentlichkeit gezeigt (bis 23. Mai – wir berichteten). Zwei Millionen Pilger aus aller Welt werden in der piemontesischen Metropole erwartet. Am Sonntag hatte Papst Benedikt XVI. den Turiner Dom besucht, um der Ikone – die katholische Kirche anerkennt das Tuch nicht als Reliquie – seine Reverenz zu erweisen.
Experten fürchten, die Ausstellung könnte für die wissenschaftliche Untersuchung des Tuchs ein schlechtes Omen sein. Normalerweise wird es unter Verschluss gehalten. Zu empfindlich ist das Abbild des bärtigen Mannes. Es verblasst. Zuletzt war es 2000, zur Feier des Heiligen Jahres, gezeigt worden. Den nächsten Ausstellungstermin hatte Papst Johannes Paul II. auf das Jahr 2025 gelegt. Vor der Zeit wird das Turiner Tuch nun gezeigt, um den Gläubigen die Ergebnisse der jüngsten Restaurierung zu präsentieren. Die war nach einem Brand 2002 nötig geworden. Und da liegt womöglich ein Problem.
Während der Restaurierungsarbeiten seien wissenschaftliche Experimente oder Untersuchungen nicht zugelassen gewesen, beklagt Andrea Sarma, Ingenieur und Grabtuch-Experte der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (siehe Kasten) auf der Internet-Seite der auch „Skeptiker“ genannten Gruppierung. Und weiter: „Ohnehin dürfte die Restaurierung künftige Untersuchungen von Alter und Herkunft des Leinens erschweren. Von Nonnen im Jahr 1534 geflickte Teile wurden entfernt, Brandstellen gesäubert und Falten geglättet. Inwieweit dabei auch Hinweise auf Farbstoffe entfernt worden sind, bleibt unklar.“
Mittelalterliche Zweifel
Gläubige – und Wissenschaftler, die das Tuch untersuchten – gehen davon aus, dass es sich bei dem Tuch um das Grabtuch Christi handelt. Als solches taucht es nach Texten aus dem Jahr 1389 um 1355 in Lirey in der Champagne auf. Das 4,36 x 1,10 Meter große, im Fischgrätmuster gewebte Tuch zeigt die Vorder- und Rückansicht eines etwa 1,80 Meter großen Mannes. Der Bärtige wurde – die Wunden an Hand- und Fußgelenken zeigen es – offenbar gekreuzigt, feine Einstiche am Kopf könnten von einer Dornenkrone stammen. Seitlich auf der Brust klafft eine Wunde, die von einer Lanze stammen soll. Das Bild, bei dem wie auf einem Fotonegativ dunkel und hell vertauscht sind, entspricht den Schilderungen der Evangelien.
Zweifel an der Echtheit des Tuches kamen schon kurz nach seinem öffentlichen Erscheinen auf. 1389 beschwerte sich der Bischof von Troyes bei Gegenpapst Clemens VII., in Lirey habe man „fälschlich und betrügerisch . . . nur aus Gewinnsucht für die dortige Kirche ein listig gemaltes Tuch angeschafft, auf dem . . . das zweifache Bild eines Mannes dargestellt ist, von dem sie fälschlich behaupten, dass dies das wirkliche Grabtuch sei, in welches unser Heiland, Jesus Christus eingewickelt war“. Sein Vorgänger, so der Bischof weiter, habe „die Betrügerei“ entdeckt: „Der Künstler, welcher es gemalt hatte, bestätigte die Wahrheit, nämlich, dass es das Werk menschlicher Fertigkeit sei, und nicht wunderhaft entstanden oder geschenkt sei.“ Der Name des Fälschers wird allerdings nicht genannt. Für eine Entstehung des Tuches im Mittelalter – Reliquienfälschungen waren seinerzeit ein blühendes Gewerbe – sprechen auch die Ergebnisse der Radiokarbon-Untersuchungen, die drei Institute 1988 an Gewebeproben vornahmen.
Wie das Bild auf den Stoff kam – die Pigmente sind nur sehr dünn aufgetragen –, konnte bislang nicht geklärt werden. Einen „Neutronenblitz“ bei der Auferstehung – auch das wurde schon vorgeschlagen – verweist man besser ins Reich der Fantasy. Das Bild spricht auch nicht von Auferstehung sondern vom Tod eines Menschen.
Eine genaue Kopie
Im vorigen Jahr soll allerdings ein Durchbruch auf der Suche nach der Machart des Bildes erzielt worden sein. Der italienische Skeptiker Luigi Garlaschelli konnte, so berichtet Amardeo Sarma, „ein vollständiges Replikat des Tuches herstellen“. Der italienische Professor für Chemie an der Universität Pavia fertigte in nur sechs Tagen, wie „Spiegel online“ berichtete, „eine genaue Kopie des Turiner Grabtuchs“. Der Chemiker arbeitete unter anderem „mit einer säurehaltigen, rötlichen Pigmentpaste, die schon im Mittelalter bekannt war“. Als Modell diente ihm ein Student. Garlaschelli vervollständigte seine Kopie mit Blutspuren, Brandlöchern und Wasserflecken. Ein schlagender Beweis, dass eine Fälschung im Mittelalter möglich war, meint der Wissenschaftler. „Das Ergebnis zeigt eindeutig, dass dieses vermeintliche Objekt von menschlicher Hand hergestellt werden kann – mit billigen Materialien und einer ziemlich simplen Prozedur“, erklärte der Italiener „Spiegel online“. Garlaschellis Experiment kann aber nicht Details erklären, die für die mittelalterliche Darstellung des Gekreuzigten unüblich waren, wie etwa die Nagelwunden an den Handgelenken und nicht in den Handflächen.
Das Tuch scheint sich der wissenschaftlichen Analyse zu entziehen. Es bleibt geheimnisvoll, ein Mythos – trotz aller Bemühungen. Für jedes Argument pro gibt es eins contra. „Die neutestamentlichen Texte und auch unser sonstiges Wissen sprechen nicht gegen die Echtheit des Tuches, allerdings auch nicht dafür“, erklärte der Würzburger Geschichtsprofessor Karlheinz Dietz im vorigen Jahr gegenüber dieser Zeitung das Dilemma der Grabtuchforschung. Skeptiker Sarma dagegen ist sicher, dass das Tuch ein Artefakt ist: „Der Künstler selbst hätte stolz sein können: Schließlich hält sein Werk seit mehr als 600 Jahren die Welt in Atem.“