Ein blaues Kleid in einer Vitrine. Blumenmuster. Weit ausgestellte Hüften. Rokoko. „Na und?“ dachte ich und drückte mich vor allem deswegen noch eine Weile um den Glaskasten herum, weil der Ausstellungsraum im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg angenehm klimatisiert war und der Sommer draußen sehr, sehr heiß.
Dann stolperte ich. Und zwar über die Ausstellungstexte, die ich zunächst eher aus Langeweile überflogen hatte. Ich las und las – und stufte das uninteressante Rokokokleid zum interessanten Rokokokleid hoch.
Weil es aus zwölfeinhalb Metern teuerstem Seidenstoff besteht – obwohl es für eine zierliche Person gemacht war. Weil der Stoff nicht (wie mein T-Shirt) bedruckt, sondern das Muster aufwendig gewebt ist. Und weil das Kleid etwas über seine Trägerin erzählt, über die Zeit, in der sie lebte, über deren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten.
Im Bann der Pfarrerstochter
Die zunächst dominanten Segnungen der Klimaanlage traten nahezu in den Hintergrund. Die Ausstellung drängte sich nach vorne. Denn ich erfuhr: Die Trägerin des Luxus-Kleides war nicht irgendeine Rokokofürstin – wie der Laie zunächst vermutet –, sondern eine Pfarrerstochter. Die hieß Juliana Luise Mauritia Eck und kam 1739 im thüringischen Albrechts, heute ein Stadtteil von Suhl, zur Welt. Eine Bürgerliche vom Land, jüngste von drei Schwestern, und ein derartiges Kleid? Jungfer Juliana zog mich mehr und mehr in Bann.
Dann kam die Urlaubszeit, der Sommer ging, die Hitze auch. Ich hatte die thüringische Pfarrerstochter schon beinahe vergessen, als mir der Katalog wieder in die Hände fiel. Erneut faszinierte mich die junge Frau aus dem 18. Jahrhundert. Ich las die Katalogtexte. Ich recherchierte im Internet auf Seiten, deren Existenz ich nicht einmal geahnt hatte. In der „Brigitte“-Community erfuhr ich beispielsweise, dass man heute für ein Hochzeitskleid 1000 bis 2000 Euro ausgeben muss.
Hochzeitskleid? Könnte im Fall Juliana sein. Die junge Frau hat das Prachtgewand wohl nur einmal getragen. Die Forscher des Germanischen Nationalmuseums haben zudem herausgefunden, dass die zierliche Frau damals 17 Jahre alt war. Blaue Farbe und Blumenmuster widersprechen der Hochzeitskleid-Theorie nicht: „Brautkleider des 18. Jahrhunderts waren – entgegen späteren Gepflogenheiten – niemals weiß, sondern entsprachen dem allgemeinen Typus des Festkleides“, schreibt Ausstellungskuratorin Adelheid Rasche im Katalog.
Woher kam das Geld?
Nach heutigen Maßstäben würde diese sogenannte Robe a la française 20 000 bis 30 000 Euro kosten, schätzt die Kunst- und Modehistorikerin. „Dabei war der aufwendig gewebte Stoff teurer als die Schneiderarbeit“, erklärt Rasche am Telefon (mein überraschendes Interesse für Kleid und Trägerin ließ mich in Nürnberg anrufen). Die in der „Brigitte“-Community diskutierten Brautkleider sind dagegen die reinen Schnäppchen . . .
Wie kam eine Pfarrerstochter an derart viel Geld? Geheiratet hat Juliana einen Herren namens Johann Christian Uschmann, mit dem sie dann bei Wittenberg lebte. Uschmann war Pastor und wohl nicht so betucht, dass er das maßgeschneiderte Seidenkleid hätte finanzieren können.
Derart modische – und teure – Kleidung „wurde im 18. Jahrhundert vor allem vom Adel und den gehobenen bürgerlichen Schichten getragen“, verrät der Katalog. Aber: Auch weniger Betuchte, bis hin zu Dienstboten, konnten zu hochpreisigen Klamotten kommen: Die Herrschaften schenkten ihnen bisweilen Abgetragenes.
In Julianas Familie, die das Kleid über 250 Jahre lang aufbewahrt hatte, bevor es das Germanische Nationalmuseum erwarb, wird denn auch gemutmaßt, das Seidenkleid könnte das Geschenk einer Fürstenfamilie gewesen sein, mit der Juliana verkehrte. Oder hat eine Erbschaft Juliana ermöglicht, das wertvolle Stück zu kaufen? Aktuelle These von Adelheid Rasche: Vielleicht sei das Kleid von einer begüterten Patin Julianas finanziert worden. Durchaus denkbar. Belegbar sind all diese Hypothesen vorerst indes nicht.
War das schicklich?
War es überhaupt für eine Pfarrerstochter schicklich, sich derart luxuriös zu kleiden? Die evangelische Kirche stand Pracht und Prunk im Diesseits eher ablehnend gegenüber. Aber: Die Geistlichkeit habe damals außerhalb der Kleiderordnung gestanden, sagt Rasche. Also: „Bei festlichen Anlässen konnte man tragen, was erschwinglich war.“
Das Kleid verrät manches über das Leben jener Zeit – jedenfalls über das Leben in bestimmten Kreisen: Man saß generell sehr aufrecht – der geschnürte Oberkörper zwang zu dieser Haltung. Und: „Der Reifrock entwickelt eine Eigendynamik“, so Rasche. „Er schwingt verspätet nach.“ Frauen mussten sich also gemessen und bewusst bewegen.
Das Kleid ist leicht asymmetrisch
Die weit ausgestellten Hüften könnten – Rasche betont den Konjunktiv – ein Hinweis auf das Frauenbild jener Zeit sein: Sie stellen die Gebärfreudigkeit heraus. Von Frauen wurde damals vor allem erwartet, Kinder zur Welt zu bringen.
Auch ein menschliches Detail über ihre Trägerin verrät das blaue Kleid: Es ist leicht asymmetrisch geschneidert. Juliana war nicht ganz grade gewachsen. Vielleicht hatte aber auch der Schneider einen Fehler gemacht.
Es gibt noch viele Fragen zu klären. Das blaue Kleid steckt voller Geheimnisse. Die Ausstellung dauert noch bis 6. Januar. Mann kann da also auch Zuflucht vor ungemütlichem Herbst- und Winterwetter finden . . .
Ausstellung „Luxus in Seide“
Mit rund 100 Stücken bietet die Ausstellung „Luxus in Seide“ im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg einen Einblick in den französisch geprägten Kleiderluxus des 18. Jahrhunderts. Zu sehen sind auch Accessoires und Schuhe.
Im Mittelpunkt steht ein hellblaues Seidenkleid, das sich, zusammen mit zusammen mit einem Reifrock 250 Jahre im Besitz einer mitteldeutschen Familie befand. Diese Stücke sind erstmals ausgestellt.
Ein ganz besonderer Duft weht durch den Ausstellungssaal: Die Pariser Parfum-Designerin Marie Le Febvre interpretierte einen Puderduft des Rokoko.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10–18, Mittwoch bis 21 Uhr; bis 6. Januar 2019