Was ist Dada? Bis heute lässt sich das nicht eindeutig beantworten. Beunruhigen muss das niemanden. Schon 1919 frotzelte der deutsche Schriftsteller und Aktionskünstler Johannes Baader, einer der frühen Anhänger dieser Kunst- und Literaturbewegung: „Was Dada ist, wissen nicht einmal die Dadaisten, sondern nur der Ober-Dada, und der sagt es niemand.“
Nachzulesen (und zu hören) ist das im „Cabaret Voltaire“. Die Künstlerkneipe in der Zürcher Spiegelgasse 1 war die Wiege dessen, was die Väter und Mütter der Bewegung unter dem ebenso einprägsamen wie rätselhaften Begriff Dada zusammenfassten. Dort wurde Dada am 5. Februar 1916 von den Ur-Dadaisten Hugo Ball, Tristan Tzara, Marcel Janco, Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Emmy Hennings und Richard Huelsenbeck aus der Taufe gehoben.
„Dada ist kein Stil, sondern eine Behauptung“, heißt es im „Dada Hand Buch“ des „Cabaret Voltaire“-Direktors Adrian Notz und des Designers Yael Wicki. „Dada hat alle damals bestehenden Avantgardeströmungen wie den Expressionismus, den Futurismus und den Kubismus in sich aufgenommen – und verdaut oder unverdaut wieder von sich gegeben.
“ Zu den Resultaten gehörten Gedichte in frei erfundenen „Lautsprachen“, die niemand im eigentlichen Sinne verstehen konnte. Als Kunstwerk ging (und geht) für Dadaisten allemal auch die Pissoir-Schüssel durch, die 1917 von Marcel Duchamp unter dem Namen „Fontäne“ als solches deklariert wurde.
Dada an sich zu begreifen, mag unmöglich erscheinen. Doch warum seine Vorreiter bisherige Ideale der Kunst so radikal ablehnten und die absolute Freiheit bis hin zum völligen Irrationalismus proklamierten, lässt sich immerhin aus den Umständen der Entstehungszeit erklären. Es ist die Zeit des Ersten Weltkrieges, der sich mit seinen Gemetzeln und Giftgaseinsätzen immer mehr als total menschenverachtende Vernichtungsmaschinerie erwies. Sinnlos war das wohl treffendste Wort für diesen Krieg, der ganz Europa erfasste. Sinnlos das Sterben, sinnlos die Gesellschaften, die es zuließen. Die neutrale Insel Schweiz mit Zürich als Metropole war der einzige Ort Europas, an dem sich Künstler von überall her zusammenfinden und unbehelligt nach Antworten auf die Katastrophe suchen konnten.
Während gleich gegenüber vom „Cabaret Voltaire“ ein spitzbärtiger Revolutionär aus Russland, bekannt unter dem Namen Lenin, den Sturz des Zaren vorbereitete. „Ist der Dadaismus wohl als Zeichen und Geste das Gegenspiel zum Bolschewismus?“, notierte Hugo Ball – und blieb die Antwort schuldig.
Längst nicht nur beim „Cabaret Voltaire“ ist man sich der Tatsache bewusst, dass Zürich vor 100 Jahren zur Geburtsstätte einer internationalen Bewegung wurde, die bald auch Künstler in Berlin und Köln, in Paris, New York und selbst in Lateinamerika und Japan inspirierte. Eine Kunstrichtung, auf die später auch die Schöpfer des Surrealismus, der Pop-Art und des Punk zurückgreifen sollten. Deshalb ist es kein Wunder, dass etliche Zürcher Institutionen sich 2016 mit Dada beschäftigen. Vom Kunsthaus über das Landesmuseum und die Universität bis zum Museum Rietberg und dem Tanzhaus Zürich. Die Zürcher Festspiele mit Opern- und Schauspielhaus kommen nicht an Dada vorbei und erst recht nicht die elfte Ausgabe der europäischen Biennale für zeitgenössische Kunst, die Manifesta 11, die von Juni bis September in Zürich über etliche Bühnen gehen wird.
Bis Ende des Jahres gibt es 165 Tage „zur Wiederaufführung einer Legende und zum Ausleben der Obsession an Dada“, wie die Veranstalter vom Verein „dada100Zürich2016“ erklären. Warum genau 165? „Wir haben lange recherchiert und Biografien sowie Daten zum Wirken von 165 führenden Dadaisten zusammengestellt“, sagt Projektsprecherin Nora Hauswirth. „Jede und jeder von ihnen wird als Patin oder Pate eines der 165 Dada-Feiertage geehrt.“ Gefeiert wird jeweils bis spät in die Nacht. Dabei will das „Cabaret Voltaire“ erklärtermaßen in einer „maßlos überfordernden Bespielung bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit einen künstlerischen Ort schaffen, in dem das Ereignis im Vordergrund steht“.
Am Anfang jedes der Dada-Tage steht ein klösterliches Offizium, ein Stundengebet. So ist der 22. Februar 2016 zum Beispiel Hugo Ball gewidmet. Es ist der 130. Geburtstag des aus Pirmasens stammenden deutschen Autors, Dada-Mitbegründers und Pioniers des Lautgedichts. Dann werden seine „Karawane“ und sein „Eröffnungs-Manifest“ erneut öffentlich vorgetragen. Die Schweizer Malerin und Tänzerin Sophie Taeuber-Arp wird mittels kubistischem Dada-Tanz geehrt.
Als Angebot zur Meditation wird das „Schwarze Quadrat“ gezeigt, die Ikone der Moderne des russischen Avantgarde-Malers und Konstruktivismus-Wegbereiters Kasimir Malewitsch.
An den deutsch-französischen Maler und Lyriker Hans Arp – einer der wichtigsten Dadaisten und Surrealisten – wird am 20. Mai erinnert. Mit der Rezitation seines verstörenden Gedichts „Die Schwalbenhode“. Eine kleine Kostprobe: „die edelfrau pumpt feierlich wolken in säcke aus leder und stein – lautlos winden riesenkräne trillernde lerchen in den himmel – die sandtürme sind mit wattepuppen verstopft.“
Der Buch-Tipp: Martin Mittelmeier: DADA. Eine Jahrhundertgeschichte (Siedler Verlag, 272 Seiten, 22,99 Euro)