
Cornelia Funke, Jahrgang 1958, ist für viele Leser ein Idol. Ihr neuster Roman "Das Labyrinth des Fauns" ist im Juli erschienen. Ein Gespräch auf einer Lesereise im ICE zwischen Frankfurt und Essen.
Cornelia Funke: Da müsste ich erst einmal mein Notizbuch herausholen. Wenn ich anfange zu schreiben, kommt es von selbst. Vielleicht würde ich erzählen, woher diese Weintrauben hier auf dem Tisch kommen und daraus eine Geschichte machen und dafür irgendwelche Winzlinge auf den Tisch setzen. Vielleicht würde ich aber auch eine ganz erwachsene Geschichte über Gisela, die Organisatorin der Lesereise, schreiben, die jetzt gerade über etwas Wichtiges nachdenkt. Es gibt tausend Möglichkeiten.
Funke: Das wäre auch nie passiert, wenn mich irgendein anderer Mensch auf der Welt gefragt hätte. Aber es gibt genau einen Menschen und einen Film, bei dem ich zustimmen musste. Man könnte sagen: Es war die unmöglichste Möglichkeit – und die ist passiert. Es war der Film, auf dessen Plakat ich zehn Jahre auf meine Schreibtischwand geblickt habe und das mir immer gesagt hat, das ist das, was Fantasy schaffen kann. Es ist ein unglaubliches Meisterwerk als Erzählung, als Film. Es spricht mich visuell und als Malerin an, und auch der politische Aspekt, diese Leidenschaft gegen Gewalt und Faschismus, bedeutet mir sehr viel. Das kam in meinen Büchern bisher nur als Thema, aber nie so konkret vor.
Funke: Ja, es gibt zwar einige sehr grausame Szenen in „Reckless“ und auch in „Tintentod“, aber ich habe noch nie Gewalt auf die Art beschrieben, wie Guillermo sie zeigt. Es hat mich beeindruckt, wie ehrlich und ungeschönt er sie zeigt, dass es mir sehr wichtig war, sie genauso abzubilden.
Funke: Weil es deutlich macht, dass Gewalt entsetzlich und menschenzerbrechend ist und kein schöner Schleier darüber liegt. Gewalt wird so oft verherrlicht, verharmlost oder sogar als sexy verkauft. Bei del Toro ist es anders, man kann es kaum anschauen, und das musste ich ins Buch übertragen.
Funke: Was ja beides dasselbe ist . . .
Funke: Das kann man nur fragen, wenn man ein seltsames Verhältnis zur Wirklichkeit hat, oder? Unsere Wirklichkeit ist ja so fantastisch, dass man ihr nur mit Fantasy näherkommt. Was ist denn zum Beispiel die Wirklichkeit in diesem Zugabteil?
Funke: Das ist die Oberfläche. Aber: Das Holz, wo kommt das Holz her? Das war mal ein lebender Baum. Das Leder ist die Haut von Tieren. Der Tisch – Moleküle, die gerade wild vor sich hinschwirren. Sie selbst, fast aus denselben Bausteinen gemacht wie die Sitze, auf denen wir gerade sitzen. Die Fliege an der Wand sieht Sie gerade ganz anders, nämlich in Zeitlupe. Das ist die Wirklichkeit. Wir sitzen auf einem Planeten, der sich um einen Feuerball dreht. Das ist die Wirklichkeit. Über uns am Himmel explodieren ferne Sonnen. Das ist die Wirklichkeit. Wir sind so gut darin, nur unsere unmittelbare menschengemachte Realität wahrzunehmen und alles, was daran kratzt, auszublenden, einschließlich unserer eigenen Sterblichkeit. Fantasy ist ein Mittel, über all die Schichten unserer Wirklichkeit zu reden, denn unsere Welt ist wahrhaft fantastisch in ihrer unendlichen Komplexität. Der Zuckerguss ist das, was wir oft Wirklichkeit nennen, die Fantasy handelt von der Torte darunter. Fantasy liefert die Substanz der Welt.
Funke: Vor allem in Deutschland ist das so. Weil die Deutschen Angst vor dem Fantastischen haben, seit die Faschisten all unsere Mythen, all unsere Märchen benutzt haben. Ich glaube, dass in Deutschland die Angst vor dem Irrationalen durch den Faschismus so traumatisch geworden ist, dass wir E.T. A. Hoffmann, die Romantiker und all unsere literarischen Traditionen vergessen haben.
Funke: Absurd. Da gibt es das wunderbare Tolkien-Zitat dazu: „Wer hat denn etwas gegen die Flucht außer dem Kerkermeister.“ Nur wenn wir uns andere Welten vorstellen können, können wir diese Welt in Frage stellen!
Funke: Nur in Amerika? Nationalismus und Rassismus sind ein globales Problem, das sieht man am Rechtsruck in Italien, am Brexit in Großbritannien oder der AfD in Deutschland. Dagegen müssen wir uns alle aktiv wehren. Es ist falsch, die Ängste der Menschen den Rechten zu überlassen. Das ist ein Versäumnis der Linken. Jeder von uns hat diese Ängste vor dem Fremden, das sollten wir zugeben. Aber warum ich persönlich mit der politischen Situation in Amerika noch gut zurechtkomme, liegt daran, dass ich in Kalifornien lebe.
Funke: Kalifornien wird auch der „Out of Control-State“ genannt. Wir haben im Moment dutzende von Prozessen gegen die Regierung im Weißen Haus laufen, das heißt, wir haben unsere eigenen Gesetze, was Umweltschutz, Gleichberechtigung, Immigration angeht. In Kalifornien ist die Politik in vielem anders als in den von Republikanern regierten Staaten der USA.
Funke: Das ist mein Zuhause.
Funke: Da gibt es ein schönes Zitat: „Home is where you feel the most“ und „Home is where you want to die“. Das stimmt beides. Ich glaube, wir alle haben eine Landkarte mit den Orten, an denen Teile unseres Lebens warten, die wir verpassen, wenn wir uns nicht bewegen.
Funke: Ich liebe es an Amerika, dass es dort immer noch unberührte Wildnis gibt. Ich möchte nicht mehr in einer reinen Kulturlandschaft leben. Ich schätze die Mitmenschlichkeit der Amerikaner sehr, die Freundlichkeit und die Herzlichkeit, das schnelle Lächeln, dass Amerikaner sich immer auch als Menschen, nicht nur mit ihrer beruflichen Fassade begegnen. Den Glauben an die Freude und dass man glücklich sein kann. Das ist für mich sehr bereichernd. Und ich liebe es sehr, in Kalifornien in einem Immigrantenstaat zu leben, wo alle wie ich von irgendwo herkommen und zusammen etwas bauen.
Funke: Ja, das habe ich sehr vermisst, wenn ich morgens in den Bus einstieg und erschrockene Blicke erntete, weil ich guten Morgen sagte. Aber ich sehe auch, dass Deutschland sich ändert. Jedes Mal, wenn ich wieder komme, habe ich das Gefühl, es ist leichter und lockerer und bunter. Für mich ist das, worum Deutschland sich solche Sorgen macht, das Wunderbarste: die Immigration. Jedes Land wird traurig, wenn es keinen Austausch mit anderen Kulturen gibt.
Funke: Das macht großen Spaß. Das ist ja keine Berühmtheit, wie bei einem Filmstar. Mich erkennt kaum einer auf der Straße. Es ist eine schöne Art von Berühmtheit, die einem das Gefühl gibt, dass man viel im Leben weitergegeben hat.
Funke: Zuerst fand ich das absurd, aber dann wurde mir klar, dass ich Verantwortung habe, wenn mich zwei Millionen Kinder lesen. Was bedeutet denn das, welche Werte gibst du weiter, habe ich mich gefragt. Das sind hoffentlich welche, die dieser braunen Brühe, die sich gerade wieder zeigt, entgegenstehen. In Amerika gibt es gerade eine Initiative von Verlagen, die den Slogan hat: „The Characters in my books would never do what you are doing“. Nach dem Motto: „Jim Knopf würde sich nie so benehmen.“ Wir Autoren benutzen unsere Figuren, um die Menschen auf Missstände und Fehlverhalten hinzuweisen. Meine Figuren würden keine Kinder in Käfige stecken. Oder gegen Immigranten marschieren.