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Blase Bayreuth, Teil 2: Das Publikum
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:37 Uhr

Es gibt zwei Extrempole, wollte man das Publikum in Bayreuth charakterisieren. Nennen wir sie die Ahnungslosen und die Experten. Die einen kommen aus dem ersten Aufzug „Parsifal“ und überlegen laut: „Vielleicht hat das irgendwas mit Jesus zu tun, mal googeln!“ Die anderen sind so vertraut und innerlich verwachsen mit der Materie, dass ihnen jede Abweichung von den Anweisungen des Meisters auf der Bühne oder im Graben körperliche Qualen bereitet.

Beide Kategorien von Festspielbesuchern sind nicht besonders interessant. Die Ahnungslosen haben wenigstens noch die Chance, diese unglaublich komplexe und faszinierende Welt voller Magie für sich zu entdecken. Die Experten hingegen sind nicht selten so gefangen in ihren Ansichten, dass diese im Grunde in die Kategorie Zwangsvorstellung gehören. Man muss sich das vorstellen: Da tut sich jemand, der weiß, dass ihm die Inszenierung nicht gefällt, sechs Stunden „Parsifal“ an, nur, um dann in die erste Stille nach dem letzten Ton sein „Buh“ zu schmettern. Eigenartiges Hobby.

Viel interessanter sind all die Menschen dazwischen. Die Entdecker, die Stauner, die Strahler, die Verblüfften. Und die Enthusiasten. Für die Bayreuth zwar die wichtigste aber eben nur eine von vielen Stationen auf ihrer immerwährenden Tour auf den Spuren von Tristan, Isolde, Lohengrin, Gurnemanz, Kundry, Siegfried, Wotan, Freia, Loge, Brünnhilde und all den anderen Helden des Wagnerkosmos ist.

„Das ist ein Wagner-Hund“

Deren Hunde mitreisen und Namen tragen wie Tristan oder Alberich. Die geduldig in Hotelzimmern ausharren bis sie im letzten Bayreuther Abendlicht nochmal über den Hotelrasen toben dürfen. „Das ist ein Wagner-Hund, der kennt die Zeiten“, sagt ein Herrchen auf die anteilnehmende Frage eines Mitenthusiasten sowohl in Sachen Wagner wie in Sachen Hunde.

Es gibt in Bayreuth viele Dinge, die einzigartig sind. Der zerschrammte Holzboden im Publikum etwa, der noch bis in Reihe 26 vibriert, wenn unten im Graben das Blech mal richtig zulangt (der leider aber auch jede unbedachte Bewegung harter Absätze für alle hörbar macht). Das „Ratsch“, wenn das Einlasspersonal die Vorhänge an den Türen zuzieht, kurz bevor das Licht ausgeht – für viele schon der erste Auslöser dieser ganz typischen Bayreuther Adrenalin-Schübe.

In den Pausen dann die Fachgespräche. „Telramund ist ein Brüller. Der kann nur brüllen.“ Oder: „Die Kundry ist großartig, aber noch besser fand ich Waltraud Meier 1992.“ Viele hier sind wandelnde Datenbanken der Operngeschichte. Die genau wissen, wie diese oder jene dramaturgische Klippe in Zürich, St. Petersburg, London, Hamburg oder Berlin umschifft wurde. Vor zehn, 20 oder 30 Jahren. Die im Kopf haben, wie lange welcher Aufzug bei Knappertsbusch gedauert hat. Und in welcher „Lohengrin“-Inszenierung tatsächlich noch ein Schwan vorkommt und in welcher nicht.

Im Idealfall kommen hier wohlwollende Enthusiasten mit wissbegierigen Ahnungslosen ins Gespräch. Dann können die einen Atzung aus dem nie versiegenden Quell ihrer Begeisterung spenden. Und die anderen bekommen Türen aufgestoßen in vollkommen neue Erfahrungswelten. Auch das ist vielleicht eine dieser Bayreuther Besonderheiten.

Lesen Sie hier „Blase Bayreuth“ Teil 1

 
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