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BERLIN
Berührende Aufzeichnungen eines verlöschenden Schriftstellerlebens
dpa
 |  aktualisiert: 01.04.2013 19:35 Uhr

„Meine Zeit ist vorbei“, notiert die 2011 im Alter von 82 Jahren gestorbene Schriftstellerin Christa Wolf („Kassandra“, „Nachdenken über Christa T.“) am 27. September 2008. Es ist der Tag, an dem sie seit 1960 immer einmal im Jahr private Aufzeichnungen macht, unabhängig von ihrem anderen Tagebuch. „Den 80. Geburtstag fürchte ich als die Grenze zwischen Alter und Todesnähe.“ Und: „Der Antrieb zu neuer Arbeit ist gering, über allem die Frage: Wozu?“

Der jetzt postum veröffentlichte Band „Christa Wolf 2001-2011 – Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“ enthält auch die berührenden Aufzeichnungen eines verlöschenden Schriftstellerlebens („Ich wäre nicht untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde“) und letzte, auch kritische Fragen an sich selbst. Zum Beispiel die, warum sie in der DDR blieb, „wenn ich schon 1965 so klar sah?“ In Rolf Hochhuths Vatikan-Drama „Der Stellvertreter“ über die Frage, wie weit die Kirche von den Massenmorden des Holocaust gewusst und geschwiegen hat, sieht Wolf auch die „immer wieder anstehende Frage, wie weit einer in einem verbrecherischen System bleiben darf, um 'das Schlimmste zu verhindern', wie weit einer seinen absoluten Maßstäben folgen soll, bis zur Selbstaufopferung“. In der DDR hatte Wolf 1965 als SED-Mitglied auf einer Parteitagung (Plenum des Zentralkomitees) zu Fragen der Kultur, bei der Künstler und Schriftsteller auf „Parteilinie“ gebracht werden sollten, einen mutigen Versuch des vorsichtigen Protestes unternommen.

Aber es kam noch schlimmer, mit dem Einmarsch der Sowjetarmee und der übrigen Warschauer-Pakt-Truppen 1968 in Prag sowie der Ausbürgerung des rebellischen Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR 1976, gegen die Wolf zusammen mit zahlreichen anderen Autoren und Künstlern öffentlich protestierte. In dem 2003 publizierten Vorgängerband ihrer „27.-September-Tagebücher“ von 1960 bis 2000 bekannte sie dazu: „Unsere Lage ist aussichtslos.“ Den Anteil der Künstler an der friedlichen Revolution von 1989 aber wird sie später mit Genugtuung festhalten.

Dass Christa Wolf für viele ihrer Leser in der DDR über Jahrzehnte „die Hoffnung auf eine andere DDR verkörpert“ hat, wie ihr einer von ihnen mal schrieb, quittiert die Autorin 2006 im Tagebuch mit der Bemerkung: „Und wenn es so war, so weiß ich gar nicht, ob mich das freuen soll.“ Denn schon früher einmal hatte sie in einem ähnlichen Zusammenhang den russischen Autor Maxim Gorki aus dessen „Sommergästen“ zitiert: „Was wollt ihr denn alle von mir? Soll ich ein Held sein, bloß weil ich Geschichten schreibe?“

Gegen Ende ihres Lebens liest Christa Wolf wieder Thomas Manns „Zauberberg“, den Roman des 20. Jahrhunderts über Philosophie, Krankheit und Tod, und noch einmal einige ihrer eigenen Werke wie „Christa T.“ und notiert zu ihren Büchern: „Ich las die Texte wie zum ersten Mal, erinnerte mich nicht, dass ich sie geschrieben hatte.“ 2007, sichtlich müde geworden, fragt sich die Schriftstellerin, die fast jeden Abend bis Mitternacht vor dem Fernseher sitzt: „Warum sieht und liest man eigentlich noch?“

Die Autorin muss täglich eine Unmenge Pillen schlucken, nimmt auch Schlaftabletten („Was soll schon passieren, wenn man mit 80 abhängig wird?“) und notiert noch immer fleißig die Zeitungsschlagzeilen des jeweiligen 27. September. Der letzte Eintrag: „Es wird laut über dem Müggelsee.“ Mit dieser handschriftlichen Notiz bricht sie am 27. September 2011 mitten im Schreiben ab.

Christa Wolf 2001-2011 – Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (Suhrkamp, 162 Seiten, 17,95 Euro)

 
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