Eine Journalistin der „Berliner Morgenpost“ fragte sich und ihre Kollegen, ob es in der Hauptstadt einen Menschen gäbe, der noch nie im Kino war. Man fand eine 85-jährige Berlinerin, „die noch nie vor einer Leinwand saß“. Die Zeitung lud sie ein zu einer Premiere, es gab Popcorn und Getränke, Begeisterung, Trauer und Leidenschaft. Da wurde ein Mensch sehr spät glücklich. Und wieder einmal war klar: Kino kann großartig sein, aber auch Angst und Wut auslösen.
Es ist stets ein großes Spektakel, und in Berlin nimmt die ganze Stadt daran teil. Am ersten Verkaufstag der Eintrittskarten für die Berlinale, die an diesem Donnerstag, 7. Februar, beginnt, standen Menschen bereits in der Nacht vor den Kassen an, Gastronomie und Hotellerie rüsten sich für den Ansturm, und weil in den Kinos bereits ab Vormittag Filme laufen, wurden selbst Helfer aus Brandenburg angeheuert, die stundenlange Fahrten in Kauf nehmen, um bei dem cineastischen Großereignis, das bis 17. Februar dauert, dabei zu sein. Auch Stars kommen: Isabella Rossellini, George Clooney, Matt Damon, Julianne Moore, Nicolas Cage, Steven Soderbergh und andere. Zum ersten Mal wird Til Schweiger über den roten Teppich gehen. Etwa 400 Filme werden in elf Tagen gezeigt, 19 Streifen konkurrieren um den Goldenen Bären.
Berlinale-Direktor Dieter Kosslick hat bei der Sichtung der Filme einen „speziellen Blick auf die Gesellschaft“ festgestellt. Filme aus aller Welt seien auffällig gesellschaftskritisch. „Man sieht nicht mehr wie früher, wo die ökonomische Bombe einschlägt – man sieht die von Splittern Getroffenen. Das zieht sich durch“, so Kosslick. An Einzelschicksalen, die repräsentativ sind, wird vorgeführt, wie es derzeit aussieht in der Welt des 21. Jahrhunderts.
Unabhängige Filme, die ohne kommerzielle Filmriesen auskommen, spielen auf der diesjährigen Berlinale eine herausragende Rolle. Die meisten sind in den USA und in Osteuropa gedreht worden. „Das Independent-Kino erlebt derzeit einen großen Aufschwung“, erklärt Kosslick. Es seien Werke, „in denen sich Realität und Fiktion oft verblüffend ähneln“. Rumänische und kasachische Filmemacher haben mit eigenem Geld und unter schwierigen Bedingungen Filme über die Regierungen in ihrem Land gedreht. Der bosnische Regisseur Danis Tanoviæ, der 2002 für „No Man's Land“ den Oscar als bester fremdsprachiger Film erhielt, hat mit der Kamera eine verarmte Roma-Familie begleitet, wobei das Thema der Gewalt gegen die Minderheit im Vordergrund steht. Dass diese Filmemacher statt Liebesgeschichten oder Psychothrillern soziale Umstände in den Fokus nehmen, ist ihrem sensiblen Gespür zuzuschreiben. Auch US-Regisseure wie Richard Linklater oder David Gordon Green gehen in die Problemviertel der Städte. Ausgrenzung, Altersarmut und Jugendarbeitslosigkeit sind die neue Ästhetik des sozialkritischen Filmgenres. Es geht um Humanität, und das bringt selbst Stars dazu, in diesen Filmen mitzuspielen. So hat Matt Damon im Öko-Krimi „Promised Land“ von Gus van Sant die Hauptrolle übernommen. Auch andere Independents sind prominent besetzt. Das Genre ist beflügelt worden durch das Sozialdrama „Winter's Bone“ von Debra Granik, das 2011 vier Oscarnominierungen erhielt. Kosslick weiß: „Die Indie-Filme haben alle eine ähnliche, bescheidene Finanzierungsstruktur. Und natürlich hat die Entwicklung der Technik – Stichwort Handkameras – das viel demokratisiert. Wichtiger erscheint mir aber, dass eine ganze Generation Filmemacher angetreten ist und auch zum Zug kommt, die sich vom Ballast der Systeme befreit hat. Und auf die Welt schaut!“
Mit dem Präsidenten der Internationalen Jury ist der Berlinale ein großer Wurf gelungen. Der Chinese Wong Kar-Wai aus Hongkong ist ein Kultfilmer, sein lustvolles Autorenkino unverwechselbar. Werke wie „Days of Being Wild“ oder „Fallen Angels“ fanden großes Publikum, brachten Kritiker zu hymnischen Beiträgen. In Cannes erhielt er für „Happy Together“ als erster Chinese den Regiepreis. „In The Mood For Love“ begeisterte Millionen, „Chunking Express“ gilt als Kultfilm der Videoclip-Generation. Wongs Helden sind Entwurzelte und Gestrandete wie er, dessen Mutter sich mit dem Kind aus dem kommunistischen China nach Hongkong absetzte.
Der Einfluss der Weimarer Republik
Er wuchs unter schwierigen sozialen Bedingungen auf, der genaue soziale Blick prägt sein gesamtes Werk. In Berlin ist „The Grandmaster“ von Wong Kar-Wai der Eröffnungsfilm. Außerdem gehören die Schauspieler Tim Robbins und Susanne Bier sowie die Filmemacher Ellen Kuras, Athina Rachel Tsangari, Shirin Neshat und Andreas Dresden der diesjährigen Berlinale-Jury an.
80 Jahre nach dem Machtantritt Hitlers zeigt die Retrospektive „The Weimar Touch“ den Einfluss des Kinos der Weimarer Republik auf das internationale Filmschaffen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die Werke deutschsprachiger Emigranten bis in die 1950er Jahre, unter anderem von Billy Wilder.
Wer sind die Favoriten für den Goldenen und die Silbernen Bären? Gemunkelt wird von Soderberghs Thriller „Side Effects“ mit Jude Law über die dunklen Machenschaften der Psychopharmaka-Branche, von „Don Jon's Addiction“ mit Scarlett Johansson und Joseph Gordon-Levitt, eine Komödie über einen Sexsüchtigen, und von „Promised Land“ mit Matt Damon. Ein blutjunger Star, die neunjährige Debütantin Quvenzhané Wallis, die in Benh Zeitlins Fantasy-Drama „Beasts Of The Southern Wild“ einen herzerfrischenden Auftritt absolviert, ist derzeit der Liebling der Filmbranche. Die Oscar-Nominierung steht fest, in Berlin könnte es schon eine Auszeichnung geben.
Die Berlinale in Zahlen
• Das Festival gibt es seit 1951. • Der Etat liegt bei 21 Millionen Euro, davon kommen 6,5 Millionen Euro vom Bund. Der Rest ergibt sich aus Einnahmen sowie durch Sponsoren und Partner. • Etwa 300 000 Eintrittskarten werden jedes Jahr verkauft. • 20 000 Fachbesucher kommen aus 130 Ländern, darunter rund 4000 Journalisten. • Festivaldirektor Dieter Kosslick ist 64 Jahre alt und leitet die Berlinale seit 2001. • Der rote Teppich vor dem Berlinale-Palast ist 25 Meter lang. Text: dpa