Das Ende der Welt ist ein Hinterhof in Berlin. Dort bricht kein Held zu neuen Taten auf, auch wenn die Musik noch so sehr dazu einlädt. Siegfried bleibt liegen. Als er später Brünnhilde vom Felsen holt, bleibt er natürlich unverwandelt, es ist die brutalstmögliche Wendung der Geschichte. In Hauseingängen liegen Obdachlose unter NPD-Plakaten. Hier wird noch geschworen und mit dem Baseballschläger vollstreckt, hier geht es noch um Bruderschaft und Ehre. Nicht der Stärkere, sondern der Verschlagenere gewinnt. So geht es, aber so geht es nicht weiter. Germanische Heldensage, konsequent zu Ende gedacht.
Vielleicht sind es diese Szenen, die Frank Castorf meinte, als er über seinen „Ring“ abfällig als „Stadttheater in aller Schönheit“ sprach. Als „schrecklichen Gleichklang im Rhythmus, im Tempo, im Licht und im Spiel der Sänger“, das sind die Sätze, die er vor Beginn der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele 2014 dem „Spiegel“ diktierte.
Und es ist tatsächlich so: Sollte es Castorf darum gegangen sein, im letzten Teil seiner „Ring“-Deutung Zusammenhänge zu zerschlagen, Bedeutungen umzukehren und sich mit Ironie gegen Gefühle zu panzern – dann ist ihm das gründlich misslungen.
Ein Geflecht an Spannung
Diese „Götterdämmerung“ schließt nahtlos an das „Rheingold“ an: mit einer Inszenierung, die sich nicht verweigert. Hier gibt es einen Herzschlag, eine Temperatur, eine Geschichte, ein Geflecht an Spannung, und das fügt sich, vom Zuschauerraum aus gesehen, tatsächlich zu einem Gesamtbild, in Kopf und Bauch. Gefühlstheater. Die Rheintöchter werfen den Ring in die brennende Öltonne, Hagen sitzt vor den Flammen, Siegfried ist tot, Brünnhilde ist abgegangen – nach ihrem im besten Sinne großen Schlussmonolog.
Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Frank Castorfs „Götterdämmerung“ gelungen ist aus Gründen, die er gerade hätte vermeiden wollen. Ironisch jedenfalls ist an diesem Abend nichts. Dieser Abend trifft.
Im Programmheft zitiert Patric Seibert den französischen Denker Vladimir Jankélévitch: „Man kann nicht zugleich verehren und verstehen“ – eine Art Leitspruch für Castorfs Arbeit, aber er stimmt nicht, es gibt bei diesem „Ring“ in Bayreuth einen, der das doch kann, und das ist Kirill Petrenko. Ein Zauberer.
Vier Abende lang wühlt er sich durch den „Ring“ und zeigt, was er gefunden hat, jeden Abend, in jedem Aufzug, gibt es Stellen, die man danach dringend noch einmal nachlesen muss, weil auf einmal Stimmen tönen, die da vorher nie so klar zu hören gewesen sind. Mit langem, sehr langem Atem, vier Abende lang vorn auf der Stuhlkante sitzend. Musik, die nicht selbstverständlich ist.
Catherine Foster hat als Brünnhilde ihren bislang besten Abend auf dem Grünen Hügel, es ist nach diesem Auftritt, nach diesem Schlussgesang, mit diesem warmen, strahlenden, sicheren Sopran im Ohr, gar nicht mehr nachzuvollziehen, dass Foster im vergangenen Jahr in manchen Kreisen noch als Notlösung galt.
Auch die Stimme von Lance Ryan (Siegfried) verspricht anfangs einen guten Abend – nuanciert, mit schönen Tönen, die aber im Abendverlauf immer mehr an Farbe und Strahlkraft verlieren. Bald ist es doch nur wieder die Kraft, die man da hört. Töne, aus der Lunge durch den Hals gepresst. Das Publikum quittiert das mit herbem Buh-Geschrei, Ryan versucht's mit Humor zu nehmen und ruft spöttisch „Buh“ zurück, das ändert an den vergangenen Stunden trotzdem nichts.
Allison Oakes glänzt als Gutrune, Alejandro Marco-Buhrmester verleiht seinem Gunther stimmliche Durchschlagskraft, es ist ein Gunther fürs Fortissimo; Attila Juns Hagen ist eher ein Hagen fürs Mezzoforte, alles, was lauter wird, kommt mit Gewalt und gerät noch stärker an die Grenze zur Unverständlichkeit. Oleg Bryjak ist Alberich.
Schauspiel nach Musikdrama
Und Castorf ist Castorf, auch an diesem Abend, nach dem man sich immerhin über eines nicht ganz sicher ist: Hat sich seine Ironie hier und heute gegen ihn selbst gerichtet? Oder er war es selbst, der ein paar Züge an der Ironie-Schraube gedreht hat. So lange, bis das herauskam, womit keiner rechnete. Weil es das ist, was man ursprünglich erwartet hätte. Wer weiß das schon. Was für eine Schlusspointe.
Und dann, nach vier Tagen Musikdrama, beginnt das Schauspiel: Castorf betritt die Bühne, lässt das Saallicht einschalten und schaut denen ins Gesicht, die ihn anbrüllen. Keine Trillerpfeifen dieses Jahr, der Saal teilt sich in eine kleine, laute Buh- und eine größere Bravo-Fraktion. Ablehnung und Ovationen, Castorf schreitet die Reihe seiner Mitarbeiter ab, bedankt sich, Küsschen hier, Küsschen dort, ja mei, das Publikum. Es dauert lange, bis er sich verbeugt. Insgesamt dreimal tritt er vor den Vorhang, am Schluss reiht er sich ein mit den Sängern und Kirill Petrenko. Stadttheater in aller Schönheit.
Vergangenes Jahr musste Petrenko Castorf nach fünfzehn Minuten von der Bühne holen, damit der Vorhang für das Orchester aufgehen konnte. Diesmal kamen die Musiker gar nicht erst. Schade. Aber es hatte sich ja die ganze Zeit auf der Bühne fast keiner um sie gekümmert.