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BAYREUTH
Bayreuther Festspiele: Dirigent Petrenko vollendet neuen Jahrhundert-Ring
Florian Zinnecker
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:42 Uhr

Gut möglich, dass Frank Castorf die „Götterdämmerung“ von allen vier Ring“-Teilen vor allem deshalb am besten gelingt, weil er mit dieser Menge an Zeit – viereinhalb Stunden, mit Pausen sechseinhalb – am besten umgehen kann. Wie lange ein Gedanke haltbar ist, wann es neue Reize braucht, wann ein kleiner Gag reicht, wann es die Keule sein muss – er beherrscht die Dramaturgie der Langstrecke im Schlaf. Es ist die Sorte Dramaturgie, die sich auf die Zuschauer verlässt, die mit ihnen rechnet anstatt sie anzufassen und sie zu unterhalten.

Man muss die viereinhalb Stunden natürlich im Zusammenhang mit den vorangegangenen zehn betrachten. „Das Rheingold“ war ein schnelles, buntes Gangsterpornokrimiknallbonbon mit ein paar kleineren Verbrechen und ein bisschen Sex anstelle einer Handlung, „Die Walküre“ ein konventionelles, anheimelndes Stück Hoffnungstheater, „Siegfried“ der anstrengende, mühsame, schon nötige, aber trotzdem nicht weniger scheußliche Sozialismus-Diskurs, und wenn man das alles im Rücken hat, bricht die „Götterdämmerung“ an: das Lied vom schlechten Menschen in drei Aufzügen mit Vorspiel, das Recht, das hier gilt, ist das Recht des Stärkeren, Hoffnung besteht zu keinem Zeitpunkt, morgen geht alles genauso weiter.

Wie mit dem Lichtschalter

In erster Linie liegt es aber nicht an Castorf, dass dieser Abend so überwältigend ist. Sondern an Kirill Petrenko, am neuen Siegfried und am neuen Hagen. Dass Petrenko ein unfassbarer Glücksfall ist für diesen „Ring“, hat sich inzwischen ja herumgesprochen, die Frage, was ihn – und was er – so sensationell macht, ist aber noch nicht zu Ende beantwortet. Petrenko kann Stimmungen wie mit dem Lichtschalter an- und ausknipsen. Die meisten Kollegen verstehen Wagner, zumal den „Ring“, als den ganz großen Bogen, sie nehmen sich den ganz langen Atem, und wenn sie überhaupt die breite Mittelspur verlassen, dann bereiten sie die klangliche Abzweigung lange vor, aus dem Fluss heraus.

Petrenko kann das auch, ein Thema aus dem anderen herauswachsen zu lassen. Er kann aber auch umschalten, auch mehrfach innerhalb eines Taktes.

Zum Beispiel bei den ersten Tönen des Vorspiels: ein scharfer Bläser-Akkord in es-Moll, dem fahlen Spiegelbild der „Rheingold“-Anfangstonart Es-Dur, und sofort darauf der zweite Akkord ganz ohne Schärfe, sondern ruhig und rund aus dem Pianissimo heraus in den Raum hinein, solche Töne kommen im Festspielhaus ja nie nachverfolgbar aus dem Orchestergraben, sie sind einfach da.

Petrenko erreicht damit eine ungeheure Wirkung. Die Celli treiben die Musik ruhig weiter, erst an-, dann wieder abschwellend, die ersten neun Takte sind wie ein einziger Atemzug, und man will danach dringend wissen, wie es weitergeht. Es gab Abende, da dachte man nach dem ersten es-Moll-Akkord schon an die Pause. Oder auch das Finale des zweiten Aufzugs, nach dem beeindruckend gesungenen Rache-Terzett, ein paar Takte nur, man könnte sie schnell abhandeln, so kurz nach dem Moment, auf den alle hören.

Petrenko entwickelt diese Takte zu einer eigenen kleinen „Götterdämmerung“, wenige Takte, in denen ungefähr alle Farben und Nuancen der viereinhalb Stunden stecken: übertriebene Feierlichkeit in den Streichern, brutale Bläsertöne, hier steckt sie, die Sensation.

Oder in den leisen, langsamen Stellen der Waltraute-Erzählung, bei denen man gar nicht so genau wusste, dass es sie gibt. Oder im Trauermarsch, als Petrenko wieder einmal die Pauke nicht nur als Bindemittel verwendet, um den Orchesterklang dick und sämig zu machen, sondern als eigenes Instrument sieht, und gleichzeitig die Streicher als Rhythmusinstrument versteht.

Petrenko hat aus diesem „Ring“ einen neuen Jahrhundertring gemacht. Oder bei den Chor-Stellen im zweiten Aufzug, Petrenko ist der einzige Dirigent dieser Saison, der den Chor akustisch sicher im Griff hat. Die Zuschauer springen auf, als Petrenko vor den Vorhang tritt. Bayreuth ist, endlich, musikalisch wieder wegweisend mit einem „Ring“, leider vorerst aber nur noch bis zum Ende der Saison. Als Castorf vor den Vorhang tritt, bleiben die Zuschauer gleich stehen, aber die meisten hören auf, Bravo zu rufen.

Seine Gags und Ideenkeulen bringen immer noch Teile des Publikums gegen ihn auf. Es ging aber weniger um konkrete Problemfälle als ums Prinzip. Und, fürs Protokoll: Castorf trat zusammen mit Petrenko und den Sängern vor den Vorhang, zum ersten Mal überhaupt. Er verbeugte sich zwar nicht, sondern stand einfach nur da, aber das kann man gelten lassen.

Am Ende kriegen die Rheintöchter den Ring, aber damit ist nichts wiederhergestellt und nichts beginnt von Neuem, er ist jetzt nur woanders, und das ändert gar nichts. Hier geht es natürlich auch um einstürzende alte Ordnungen und das Scheitern der neuen, aber auf handlichere Art. Hier geht es nicht um den Weltenbrand und Walhall, sondern um Totschlag im Hinterhof, wer wen erschlägt und wer diesmal davonkommt, ist egal, es ändert nichts.

In kleinen Szenen

Der große Bogen ist nicht in jedem Moment unübersehbar im Vordergrund, Castorf erzählt die große Geschichte in kleinen Szenen. Hagen, der traurig in die Flammen schaut, in denen der „Ring“ liegt, und der vergeblich versucht, den Ring herauszufischen. Gutrune, die den Verstand verliert. Gunter, der nach dem Rache-Terzett auf einen Tisch einschlägt.

Die Rheintöchter, die das, was die Natur ihnen gegeben hat, gewinnbringend einsetzen. Siegfried, dem nie jemand das Konzept von Treue erklärt hat und der nicht versteht, warum ausgerechnet er etwas falsch gemacht haben soll in dieser Umgebung, in der doch niemand etwas richtig macht. Das ist so traurig, dass es fast schon rührend ist, ob es sich nun vor einer Döner-Bude abspielt oder nicht.

Catherine Foster hat den letzten Rest Zaghaftigkeit abgelegt, ist aber trotzdem keine überirdische Brünnhilde, sondern eine, die eine sehr menschliche Großleistung schafft, ein paar Töne sind nicht da, wo sie sein sollen, was da ist, ist aber: eine große, souveräne Stimme. Stefan Vinke ist endlich der Siegfried mit Siegfried-Stimme, der dieser Produktion bisher fehlte, von den ersten Phrasierungen bis zum Schlussgesang, auf den letzten Metern allerdings auch mit ein paar verbreiteten Wackeligkeiten in der Höhe.

Das Sängerensemble ist ausnahmslos stark in diesem Jahr, der Alberich von Albert Dohmen, der Gunter von Alejandro Marco-Buhrmester, die Gutrune von Allison Oakes. Am stärksten aber: Stephen Meille als Hagen. Souverän, intonationssicher, textverständlich. Auch das hat diesem „Ring“ bisher gefehlt.

 
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