
Das Musical um Bandenkriege in New York, Leonard Bernsteins „West Side Story“, passt natürlich auch in eine deutsche Justizvollzugsanstalt (JVA), so der erste Eindruck von der Idee der Würzburger Musikhochschule. Ausgeheckt hatte diese Idee Anja Nicklich, Berliner Gastdozentin für Auftrittstraining an der Hochschule für Musik Würzburg. Doch noch ein paar Tage vor der Aufführung ist Nicklich keinesfalls sicher, dass Bernsteins 50 Jahre alter Hit ein Selbstläufer hinter dem Stacheldraht im Würzburger Industriegebiet Ost wird.
Trotzdem hat die freischaffende Opernregisseurin gerade die Frage gereizt – und deswegen den exotischen Konzertsaal ausgesucht: „Nehmen uns die Knackis ab, dass Klassikstudenten aus einem wohlbehüteten Elternhaus amerikanische und puertoricanische Gangs spielen?“
Der Grenzverlauf
Tag der Aufführung, Kapelle der JVA am Friedrich-Bergius-Ring. Weiter Raum trennt die Quintette jugendlicher Banden, die Jets und die Sharks. Erstere spielen ihre Hörner und Posaunen auf der Empore, letztere im geleerten Altarraum. Eine interessantere Grenze verläuft aber zwischen den Musikern insgesamt und den rund 100 Inhaftierten, die das Plakat auf ihren Fluren neugierig gemacht hat: „Ein szenisches Konzert für Blechbläserensemble und Jazz-Combo“. Bei 600 Häftlingen im Hause ist das eine ansehnliche Quote. „Klassik-Konzerte ziehen sehr viel weniger an“, sagt Anstaltsdirektor Robert Hutter, gibt aber zu bedenken: „Einer der Gründe, warum manche Männer zum Gottesdienst gehen, ist auch der, dass man dabei Frauen sehen kann.“
Das runde Dutzend meist junger Mädchen hat als zuerst auf der Empore Platz genommen. Sie sitzen den Männern im Nacken, die anschließend in Gruppen eintreffen – getrennt nach Häusern und damit nach Verbrechensarten. Beim Hinsetzen wird sich noch kräftig nach den Frauen umgedreht. Bald erscheint den Kerlen jedoch die zwischengeschlechtliche Kommunikation vorn auf der Bühne wichtiger als die im Saal. Sie geht ja auch deutlich weiter.
Das kommt immer gut an
Die Musikstudenten spielen das ursprüngliche Musical nach Bernsteins Arrangements für Bläserensemble, in Auszügen, mit gesprochenen eigenen Texten auf der Basis der deutschen Bühnenfassung. Die Blechbläser sollen mit ihrem Bandenmitglieder sein. Für ihre Dozentin geht es darum: „Was will ich erzählen? Wie wirke ich?“ Das ist szenisches Konzert, das hat sie 2017 zum ersten Mal in Würzburg erprobt mit Olivier Messiaens „Quartett vom Ende der Zeit“. Die Arbeit der Studierenden „mit sich selbst“ habe ihnen einen „ganz neuen Zugang zum Komponisten verschafft, die Teilnehmer selbst haben sich komplett verändert“. Daher sah Anja Nicklich auch heuer vor dem JVA-Auftritt gute Chancen, dass ihre Schützlinge die Aufmerksamkeit auch dieses ungewöhnlichen Publikums fesseln können.
Die Künstler erscheinen mental gut vorbereitet – und hatten Hilfe. So sorgt die Akustik zwischen den Betonwänden dafür, dass die Blechbläser schon bei dezenter Puste ziemlich laut erschallten. Das kommt immer gut an. Durchsetzen muss sich die Kunst gegen deutlich mehr Schwätzen als bei freilaufendem Publikum. Andererseits guckt das gefangene Publikum gebannter auf das Geschehen, geht williger mit.
Energie auf der Bühne erweist sich als gutes Mittel, die Aufmerksamkeit zu fesseln. Stark aufgeladenes, rhythmisches Fußstampfen muss man nicht verstehen, das kommt ebenso gut an wie dezente, aber verständliche Details – bei diesem scheinbar speziellen Publikum. Ebenso wie bei fast jedem Theatergänger. Nach einer Stunde ist diese „West Side Story“ vorbei.