
Carl Spitzweg, Sohn aus wohlhabender Münchner Familie, ist 25 Jahre alt, er hat sein Examen als Apotheker mit Auszeichnung bestanden und erholt sich gerade auf einer Kur von einer schweren Darmerkrankung, als er eine Entscheidung trifft, die sein Leben verändern wird: Er will Maler werden. Vier Jahre später entsteht die erste Fassung des Bildes, das heute sein berühmtestes ist: „Der arme Poet“. Zwar besitzt die Sammlung Georg Schäfer keine der insgesamt drei Versionen, die Spitzweg gemalt hat, trotzdem wird dem armen Poeten bei der großen Spitzweg-Ausstellung im Schweinfurter Museum Georg Schäfer ein eigener Raum gewidmet.
In einer nachgebauten Stube hängen mehrere Reproduktionen, und Museumsleiterin Sigrid Bertuleit stellt die Frage, warum das anfangs so belächelte Gemälde, das einer Jury nicht gut genug war, um im Münchner Kunstverein zu hängen, wohl später so berühmt wurde. Auch Kinder sollen sich Gedanken darüber machen. Carl Spitzweg jedenfalls hatte sich über die Ablehnung sehr geärgert, ließ sich aber nicht von seinem einmal eingeschlagenen Weg abbringen.
In den folgenden Jahren reiste er viel, unter anderem nach Italien und Frankreich, und nahm seine Ausbildung selbst in die Hand. Er studierte und kopierte die alten Meister, vor allem die Maler der Romantik. Ab 1851 entstanden viele der Meisterwerke, die so bekannt und so oft reproduziert wurden, dass sie auch Menschen vertraut sind, die nicht in Museen gehen.
Es ist nicht leicht, Carl Spitzweg einzuordnen. Das hat zwei Gründe. Zum einen: Sein Werk ist vielschichtig und lässt sich nicht auf seine berühmten Pointenbilder reduzieren. Und: Bis heute kleben hartnäckig viele Etiketten an ihm – harmlos, brav-deutsch, „Hitlers Lieblingsmaler“, spitzbübisch, Maler des deutschen Humors und der traulichen Idylle, Romantiker – um nur die wichtigsten zu nennen. Man könnte sagen, die Schweinfurter Ausstellung versucht, unvoreingenommen den ganzen Spitzweg zu zeigen, den leisen Zeitkritiker ebenso wie den hintergründigen Satiriker. Sie stützt sich dabei auf die Forschungen eines Kunsthistorikers, der sich intensiv wie kaum ein anderer mit diesem Maler beschäftigt hat und der viele Etiketten abreißen konnte: Jens Christian Jensen. Er hat die Sammlung Georg Schäfer viele Jahre lang wissenschaftlich begleitet und 2002 die erste große Spitzweg-Ausstellung im Museum Georg Schäfer kuratiert. Jensen starb 2013, diese zweite, noch umfangreichere Werkschau ist ihm gewidmet.
Ihr Titel, „Carl Spitzweg. Die weltweit größte Sammlung seiner Werke“, kündigt schon an, welche Qualität und Fülle den Besucher erwarten: rund 140 Gemälde und 46 Zeichnungen, weit mehr als die Hälfte der 290 Exponate umfassenden Sammlung. Sigrid Bertuleit beginnt mit einer kleinen Provokation als Anspielung auf den Vorwurf, Spitzweg habe doch nur einen eingeengten Blick auf eine kleine Welt gehabt: Eine Wand versperrt den Blick in den Hauptsaal. Durch ein Guckloch sieht der Besucher nur ein Bild: „Der strickende Wachtposten“ von 1855.
Natürlich kann man über den einfältigen kleinen Soldaten lachen, wie über all die anderen Sonderlingen bei Spitzweg: den Liebeswerber, der eine lächerliche Figur abgibt, den „Bücherwurm“ auf der Leiter, der sich nicht mehr rühren kann, weil er unbeholfen ein Buch unter den Arm, ein weiteres zwischen die Beine geklemmt hat, oder den Kaktusliebhaber, der nur Augen für seine kleine stachelige Pflanze hat. Aber Spitzwegs Pointen sind nie simpel oder gemein. Er zeigt entweder Mitleid mit seinen komischen Figuren oder übt– wenn auch leise – Kritik an der Gesellschaft. Die Kanone neben dem Wachtposten ist direkt auf den Betrachter gerichtet – das 19. Jahrhundert war ein kriegerisches –, aber Spitzweg lässt aus dem Rohr ein Blümchen sprießen. Diese Kanone schießt nicht mehr scharf. Der Liebeswerber wird aus allen Fenstern neugierig beobachtet, dem Bücherwurm, dem Intellektuellen hoch oben auf der Leiter, entgeht die Schönheit der Welt.
In einem zweiten Raum stellt Bertuleit die Frage, ob Spitzweg ein romantischer Maler gewesen sei? „Aber ja“, könnte man angesichts der badenden Nymphen, der Mädchen auf Waldwegen, der Schulkinder im Wald oder der Begegnung eines Jägers mit einer Sennerin auf einer einsamen Lichtung antworten. Aber auch hier fordert die Ausstellung zum genauen Hinsehen auf. „Natürlich hat Spitzweg die Romantiker studiert“, sagt Bertuleit, aber eines hätten beispielsweise die Maler von Barbizon nie zugelassen: dass die Nymphen, die bei Spitzweg eher Bauerndirnen sind, von Zwergen beobachtet werden und damit Märchenhaftes ins Bild kommt, das die naturnahe Realität störe, ja ironisch in Frage stelle. Der Betrachter könne über die kleinen Voyeure lächeln, müsse aber auch erkennen, dass er selbst ein Voyeur sei. In den 1850er- und 60er-Jahren verliert sich der satirische Aspekt. 1863 zieht Spitzweg in die Dachwohnung am Münchner Heumarkt (heute St. Jakobs-Platz), in der er bis zu seinem Tod 1885 lebt und arbeitet. Viele Landschaftsbilder entstehen – ausschließlich im Atelier. Spitzweg malt aus der Erinnerung an seine Reisen und Wanderungen und mit Hilfe von Skizzen, die er vor Ort gemacht hat. Und er malt aus der Phantasie und nach Erzählungen. Die Wüstenlandschaft, das Schneefeld mit den Eskimos oder die Tropen, in die er seinen Naturforscher setzt, hat er in Wirklichkeit nie gesehen.
Spitzweg lag damit voll im Trend. Im 19. Jahrhundert wurde der Reiz des Fremden und Exotischen entdeckt. Auf der Weltausstellung in London 1851 gab es eine orientalische Abteilung, in der sich der Maler Anregungen für seine Bilder aus dem Basar und dem Harem holte. Das erste Spitzweg-Gemälde, das Georg Schäfer 1951 erwarb, war ein solches exotisches Bild. Es zeigt einen „Orientalen mit Gebetskette“, der im Winkel eines verfallenen Gemäuers sitzt. Jedes Spitzweg-Bild erzählt eine Geschichte, die über das vordergründig Sichtbare hinausgeht. Jedes Detail hat eine Bedeutung, die sich nur jenem erschließt, der sich Zeit nimmt. Geliebt wird Spitzweg vermutlich, weil er bei aller Ironie und Kritik zeigt, dass es ein Glück auch im Kleinen gibt.
Die Ausstellung „Carl Spitzweg. Die weltweit größte Sammlung seiner Werke“ im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt ist bis zum 30. November zu sehen. Geöffnet Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do bis 21 Uhr.