Es ist schon fast ein Ritual. Pünktlich alle zwei Jahre empfangen Linkin Park im Hotel „The Sunset Marquis“ in West Hollywood die Weltpresse, um über das jeweils neue Werk zu sprechen. Album Nummer sechs heißt „The Hunting Party”, verzichtet auf so gut wie jede pop- oder gar dance-musikalische Spielerei und haut stattdessen mächtig in diverse Punk- und Heavy-Kerben. Zu den Gästen zählen Rapper Rakim, Tom Morello von Rage Against The Machine sowie Helmet-Sänger Page Hamilton. Passend zum barschen und aggressiven Grundton des Albums ist speziell Frontmann Chester Bennington (38) ganz gut auf Krawall gebürstet, während sein Kollege Mike Shinoda (37) eher um Ausgleich und Beschwichtigung bemüht ist. Das neue Album heißt „The Hunting Party”, der Name der gemeinsamen Nordamerika-Tournee mit 30 Seconds To Mars ist „Carnivores“, also Fleischfresser.
Mike Shinoda: Das hat Jared Leto auch wissen wollen. Der isst ja überhaupt kein Fleisch und war kein großer Freund des „Carnivores“-Titels. Wir konnten ihn jedoch überzeugen, dass wir auf einer ganz anderen Art von Jagd sind als auf der nach Tieren. Zumal wir mit Brad Delson und Rob Bourdon selbst zwei Vegetarier in der Band haben.
Shinoda: Auf der Jagd nach geiler, aggressiver, blutiger Musik. Ich habe mich dieses Mal zu Beginn sehr schwer getan, die neue Platte zu konzipieren und die Songs zu schreiben. Ich sehnte mich insgeheim zurück in eine Zeit, in der ich die Leute mit meiner Musik noch beeindrucken konnte, in eine Zeit vor fast 15 Jahren als wir „Hybrid Theory“ veröffentlichten.
Chester Bennington: Mike war verunsichert, das merkten wir deutlich. Er ging zunächst in eine für unsere Verhältnisse poppige Richtung und verschärfte damit die Entwicklung noch einmal, die wir mit unseren letzten beiden Platte „A Thousand Suns“ und „Living Things“ eingeschlagen hatten. Als er dann irgendwann zu uns sagte „Ich hasse diese Songs und ich will damit nicht weitermachen“, konnten wir erleichtert aufatmen und zugeben, dass wir sie auch hassten.
Shinoda: Ich höre viel Alternative Pop und stehe auf die Musik von Bands wie Vampire Weekend, Animal Collective, Chvrches oder Haim. Ich forschte also herum innerhalb dieser modernen, alternativen Poprichtung, bis ich von jetzt auf gleich alles verwarf. Mir wurde klar: Ich will keinen Pop machen, die ganze Band will keinen Pop machen. Alle wollen Rock, und zwar von der lauten Sorte.
Bennington: Sagen wir so: Es gibt eine Lücke, und die wollen wir schließen. Den verunsicherten Kids, die gerade aufwachsen und sich nach Orientierung durch harte, substanzielle Rockmusik sehnen, wird aktuell rein gar kein Service geboten. Was sollen sie hören, wenn sie vielleicht nicht auf das ultrahärteste Zeug stehen und ganz gern auch eine Melodie hören und den Text verstehen wollen? „The Hunting Party“ sollte das Album werden, dass sich dieser Teenager anhört und anschließend sagt „Ich will Gitarre lernen. Ich will Schlagzeug lernen. Ich will auch so laut schreien können.“ Wir wollen, dass sich die Körper der Leute aufbäumen und explodieren, wenn sie diese Platte hören (lacht).
Shinoda: Das lasse ich gern so stehen. Uns ist klar, dass wir kein Black Metal machen und dass Stücke wie „Keys to the Kingdom“ oder „Wastelands“ zwar brachial sind, aber nicht annähernd zum Härtesten gehören, was jemals erscheinen wird. Dieser Anspruch wäre auch vermessen. Aber für uns ist „The Hunting Party“ sehr hart. Wenn wir hiermit dem einen oder anderen jungen oder auch nicht mehr jungen Menschen die Schönheit der Rockmusik näherbringen können, dann haben wir erreicht, was wir wollten.
Bennington: Wir hassen den Gedanken, dass Rockmusik stirbt oder irrelevant wird. Die Entwicklung wollen wir aufhalten und umkehren.
Bennington: Weil wir es können. Uns war schon immer herzlich gleichgültig, welchem Genre wir angehören. Wir haben uns nie festgelegt und haben auf jedem Album die Richtung verändert. Trotzdem klingen wir immer wie Linkin Park. Wir halten es für ein spannendes Projekt, harten Rock wieder interessant zu machen, obwohl wir wissen, dass wir dabei auch Gegenwind bekommen werden, beispielsweise von vielen Radiosendern.
Bennington: Das ist mir scheißegal. Dieses Album ist unser riesengroßer Mittelfinger. Den zeigen wir all den Lügnern und Heuchlern da draußen, die so tun, als wären sie Rockmusiker. Dabei machen die doch alle nur noch Countrymusik mit etwas härteren Gitarren. Alternativ oder unabhängig ist da überhaupt nichts mehr. Wir sind zumindest insofern unabhängig, als dass wir nicht auf Verkaufszahlen schauen.
Bennington: Aber weil es auch gleichgültig ist.
Shinoda: Alles, was im Moment populär ist, ist Süßkram. Die ganzen Charts bestehen aus Zucker. Das ist nicht gesund. Es gibt hier in Los Angeles jetzt auch mehrere dieser Restaurants, die Molekularküche anbieten, dieses moderne Zeugs aus Schäumchen. Auf der neuen Platte haben wir ein ganz kleines bisschen Schaum, den einen oder anderen schrägen Moment, aber, um bei dem Essensvergleich zu bleiben: „The Hunting Party“ ist ein großer Teller voller Fleisch und Kartoffeln.
Shinoda: Der Song war knifflig, ich habe ihn mit Brad und Chester gemeinsam geschrieben, und wir drohten immer wieder zu sarkastisch zu werden. Aber Humor und Augenzwinkern sind Stilmittel, die bei Linkin Park nicht gut funktionieren. Wir hören uns einfach an wie Arschlöcher, wenn wir irgendwas nicht ernst meinen.
Shinoda: Um die Gegenüberstellung der guten alten Teenager-Rebellion und den echten Aufruhren, die sich aktuell auf der Welt ereignen. Als ich 14 war, in der Vorstadt lebte und Klamotten trug wie ein Kleinganove, wurde ich das eine oder andere Mal von der Polizei durchsucht. Das war eigentlich eine Sauerei von denen, aber ich war irgendwie auch stolz, dass sie es auch nur für möglich gehalten hatten, ich sei ein Gangster, der Ungutes im Schilde führt. Wie gefährlich und furchteinflößend echte Rebellionen sind, das sehen wir jeden Tag im Fernsehen. Ukraine und Baggy Pants, beides bedeutet Auflehnung, und zusammen ergibt das einen Song.
Shinoda: Ich weiß es noch nicht, wahrscheinlich lassen wir den Song weg. Wir wollen nichts tun, was die Sicherheit des Publikums gefährdet. Wir möchten keine Provokation auf Kosten der Fans.
Bennington: Rebellisch zu sein bedeutet für mich, dass ich das tue, was ich tun will. Ich bin ein ziemlich unsozialer Zeitgenosse. Ich kotze Autoritäten am liebsten vor die Füße und mag es überhaupt nicht, wenn andere mir Vorschriften machen oder mir sagen, was ich denken soll – selbst dann nicht, wenn die anderen recht haben. Ich will selbst herausfinden, was richtig und was falsch ist. Im Privatleben führt mein Gebaren manchmal dazu, dass ich mich wie ein jugendlicher, unreifer Arsch benehme. Auf unsere Karriere bezogen bin ich stolz auf unseren rebellischen Geist. Wir haben immer Flagge gezeigt und auf den bequemen Weg verzichtet.
Bennington: So lassen wir Wut und Frust ab. Wir sind mittelalte Männer, die nicht nur in ihren Wohlfühloasen leben, sondern mitkriegen, was auf der Welt schlecht ist. Wir sind die Stimme der angepissten Kids. Ich bin heute in einer ganz anderen Lebenssituation als zu Zeiten von „Hybrid Theory“, und doch gibt es immer noch viele Dinge, die mich total sauer machen.
Bennington: Ja. Krieg ist Schwachsinn, eine antike, archaische Form der Streitschlichtung. Krieg ist, wenn ein Wolf einen anderen Wolf beißt, weil er auch ein Stück des erlegten Tieres abbekommen will. Als Menschen sollten wir über ein solches Verhalten längst hinausgewachsen sein, und doch benehmen wir uns oft wie die Höhlenmenschen, sobald uns nicht passt, was der andere macht oder sagt.
Shinoda: Brad hatte vorübergehend wenig Bock aufs Gitarre spielen, es langweilte ihn. Es ist toll für uns, dass er jetzt wieder Spaß daran gefunden hat und nach langem mal wieder richtige Soli spielt. Einen noch größeren Sprung hat aber Rob gemacht, der musste wochenlang Sonderschichten einlegen, damit er die neuen Stücke auf der Bühne hinbekommt. Die Drum-Parts sind richtig komplex, selbst meine Frau, die ein bisschen hobbymäßig Schlagzeug spielt, meinte neulich zu mir: „Der arme Rob. Das wird brutal hart für ihn“.
Bennington: Ich glaube, die mögen die Platte ganz gern. Ich weiß es aber nicht, denn zugeben würden die das nie. Für meine Kinder bin ich Dad, und als solcher bin ich nicht cool, sondern da. Dads Band geil zu finden, gilt in der Schule als lahm. Das ist normal und bestimmt in anderen Berufen genauso. Ich würde gern von Barack Obama wissen, ob seine Töchter das abgefahren finden, dass ihr Vater Präsident ist. Ich schätze, es ist den beiden ziemlich schnuppe.