
Auch im hohen Alter ist sich Nadine Gordimer auf bemerkenswerte Weise treu geblieben. Im Gegensatz zum anderen Literaturnobelpreisträger Südafrikas, J. M. Coetzee, hat sie sich nie von Südafrika abgewandt. Zwar ist sie fast 20 Jahre nach Beseitigung des rassistischen Apartheidregimes maßlos enttäuscht über Korruption und Vetternwirtschaft im neuen, demokratischen Südafrika. Aber trotz allen Zorns und wütender Kritik steht sie auch als bald 90-Jährige zur früheren Befreiungsbewegung und heutigen Regierungspartei ANC.
Nach wie vor ist die große alte Dame der südafrikanischen Literatur voller Schaffenskraft und träumt als stolze Patriotin vom inneren Frieden der „Regenbogennation“. Vermutlich wird der ANC-Chef, Südafrikas Präsident Jacob Zuma, nur mit gemischten Gefühlen Gordimer am 20. November zum runden Geburtstag gratulieren können. Denn die streitbare Autorin beschuldigt den heute politisch fast allmächtigen ANC schon lange des Verrats an den freiheitlichen und demokratischen Idealen des Anti-Apartheidkampfes und Nelson Mandelas.
Es hat eine gewisse Symbolkraft, dass die erfolgreiche Schriftstellerin, deren Bücher in 20 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet wurden, in der unsicheren Metropole Südafrikas geblieben ist – nicht weit entfernt vom Domizil Mandelas. Selbst ein brutaler Überfall in ihrem Haus, bei dem sie 2001 bedrängt und eingesperrt wurde, veränderte nichts.
„Da habe ich nun die Erfahrungen gemacht, die so viele andere machen mussten“, sagte sie nüchtern dem englischen „Telegraph“. Angst habe sie ohnehin nie in ihrem Leben zugelassen. Auch in den Einbrechern sah Gordimer vor allem verführte junge Männer, die die Perspektivlosigkeit in die Kriminalität dränge. Als besondere Stärke ihrer zahlreichen Romane und Erzählungen gilt, dass sich in den Schilderungen aufwühlender Einzelschicksale die großen politischen und sozialen Herausforderungen der Gegenwart spiegeln und kristallisieren.
Deutlich, für manche Literaturkritiker zu tagespolitisch, kritisiert die Autorin in ihren Werken die Mächtigen im Land, in jüngster Vergangenheit insbesondere den „gefährlichen Politiker“ Zuma. 2012 äußerte sie sich bestürzt über „das schreckliche Massaker“ in Marikana, als 34 streikende Minenarbeiter getötet wurden – von überwiegend schwarzen Polizisten. Nach der hoffnungsfrohen Ära Mandela leide Südafrika zunehmend an einem „nationalen Kater“, klagte Gordimer einmal.
Ihr Werk ist vor allem von der rassistischen Apartheid-Ära und dem Kampf gegen die weiße Vorherrschaft geprägt. Aber auch in ihren Schriften seit 1994 dominiert ihr Engagement für Gerechtigkeit und Menschenwürde. Politik war selbst in ihrem privaten Leben wichtig. „Ich hätte nie einen Liebhaber haben können, der meine Ansichten über Rassismus nicht geteilt hätte“, sagte sie einmal.
Umso bitterer war es für die feingliedrige, stets perfekt gekleidete Schriftstellerin, dass sich ausgerechnet in ihrem ANC, einmal an der Macht, Korruption und Klüngelei ausbreiteten. „Wir waren naiv, wir hatten uns auf die Beseitigung des Apartheidregimes konzentriert und nicht tief genug darüber nachgedacht, was folgen würde.“
Gordimer, die aus einem vermögenden Haus stammt, wurde in ihrer Kindheit in Springs nahe Johannesburg lange Zeit zu Hause unterrichtet. Früh begann sie mit dem Schreiben, mit vierzehn Jahren erschien ihre erste Kurzgeschichte, 1953 dann ihr erster Roman, „Entzauberung“. Zum 90. Geburtstag veröffentlichte ihr deutscher Verlag eine beeindruckende Auswahl von noch nicht auf Deutsch erschienenen Essays und Erzählungen.
Einst sehr reiselustig, lebt sie heute relativ zurückgezogen. Nur schwer verwand sie – nach 47 Jahren Ehe – den Tod ihres Mannes, des 2001 verstorbenen Kunstsammlers Reinhold Cassirer, der einst vor den Nazis aus Deutschland geflohen war.