Am Montag müssen die Berliner Philharmoniker für einige Stunden auf ihre Handys verzichten. Wenn sich die Musiker um 10 Uhr an einem bisher geheim gehaltenen Ort einfinden, werden sie ihre Kontakte zur Außenwelt kappen. 124 Orchestermitglieder entscheiden dann, wer künftig ihr Boss sein soll – als Nachfolger von Sir Simon Rattle, der 2018 geht.
Mit der Wahl des neuen Chefdirigenten vergeben die Philharmoniker einen der begehrtesten Jobs der Musikwelt. In einer ersten Runde können die Musiker jeden Dirigenten vorschlagen. Nach einer Diskussion soll eine „Shortlist“ entstehen, über die abgestimmt wird. Notwendig sei eine „deutliche Mehrheit“, so eine Sprecherin der Philharmoniker. Der Auserwählte soll dann angerufen und gefragt werden, ob er den Posten übernimmt.
Jung oder etwas älter, dynamisch oder bedächtig, ein Hansdampf oder ein ehrwürdiger Maestro – am Montag treffen die Philharmoniker auch eine Richtungsentscheidung.
Mit Rattle und Intendant Martin Hoffmann, einem früheren Sat.1-Manager, hat sich das Ensemble zu einem Multimedia-Unternehmen gewandelt. Filme, Kino, Streaming – die „Berlin Phil“ sind auf allen Kanälen präsent, ganz in der Tradition des technikbesessenen Herbert von Karajan, der früh mit Video und CD experimentierte.
Ob Gustavo Dudamel, der Lockenkopf aus Venezuela, Christian Thielemann, einstiger Karajan-Assistent und heute Orchesterchef bei der Staatskapelle Dresden, Andris Nelsons, das lettische Energiebündel, zurzeit beim Boston Symphony Orchestra – kaum ein bekannter Kapellmeister blieb bei den Spekulationen ungenannt. Auch ältere Kollegen wie etwa Daniel Barenboim sind im Gespräch.
Seit Gründung der Philharmoniker 1882 hat sich das Bild ihrer Chefdirigenten grundlegend gewandelt. Hans von Bülow, Wilhelm Furtwängler und Karajan traten mehr oder weniger als absolutistische Herrscher auf. Mit der Wahl von Claudio Abbado begann die Öffnung. Und Rattle führte die Philharmoniker als demokratisch gesinnter Menschenversteher ins 21. Jahrhundert.
Dabei war seine Wahl 2001 eine große Überraschung. Wie damals könnte es auch diesmal einen Coup geben. Es gibt im Orchester zwar eine starke Fraktion, die sich Christian Thielemann (56) wünscht. Doch der gebürtige Berliner hat auch viele Gegner. Er verzückt mit Spätromantik sein Publikum. Kritiker empfinden ihn aber musikalisch und auch politisch als zu konservativ.
Ein Dilemma ist, dass es zwar eine ganze Riege junger Dirigenten gibt, Kandidaten mittlerer Jahrgänge aber eher dünn gesät sind. Dazu zählt Riccardo Chailly (62), Chef im Leipziger Gewandhaus und an der Mailänder Scala. Die großen Stars sind jenseits der siebzig, etwa Daniel Barenboim (72). Der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper hat zwar noch vor wenigen Tagen vehement betont, dass er nicht zur Verfügung stehe. Viele würden eine Liaison aber als Traumhochzeit sehen.