
Als „Königin der zeitgenössischen Kurzgeschichte“ erhält die Kanadierin Alice Munro den Literaturnobelpreis 2013. Sie ist die 13. Frau, die mit dem wichtigsten Literaturpreis der Welt ausgezeichnet wird. Erstmals geht die Ehrung nach Kanada – und erstmals nach 20 Jahren wieder nach Nordamerika. Die Auszeichnung der 82-Jährigen stieß in der Fachwelt auf viel Zustimmung. Der Nobelpreis ist mit rund 910 000 Euro (acht Millionen Schwedischen Kronen) dotiert. Traditionell wird er am 10. Dezember überreicht, Todestag des Preisstifters und Industriellen Alfred Nobel (1833-1896).
Man habe die 82-Jährige zunächst nicht erreicht und ihr eine Nachricht hinterlassen, sagte Peter Englund als Sprecher der Jury am Donnerstag in Stockholm. Munro erfuhr dann von ihrer Tochter, dass sie den Nobelpreis bekommt, wie der kanadische Sender CBC berichtete. „Mama, du hast gewonnen“, habe die Tochter am Telefon gesagt, twitterte der Sender nach einem Anruf bei der Autorin.
Sie sei schon so alt, er hoffe, dass sie im Dezember über den Atlantik kommen könne, sagte Englund. Munro habe eine „hohe Intensität in ihren Texten“, „sie kann mehr auf 30 Seiten sagen als andere Autoren auf 300“. Er lobte Munros „stilistische Perfektion“, sie habe „eine fantastische Melodie“, sei aber „sehr, sehr selbstkritisch“. Der Literaturkritiker Denis Scheck („Druckfrisch“, ARD) nannte den Preis für Munro eine „sensationelle Wahl“. „Das ist nicht nur eine Entscheidung für die neben Margaret Atwood tollste kanadische Autorin, sondern auch eine Entscheidung für die Form der Erzählung.“
Die zierliche Alice Munro braucht nicht viel Platz, im Leben wie im Schreiben. An einem kleinen Sekretär in der Ecke ihres Wohnzimmers in der kanadischen Provinz Ontario entstanden bislang ihre Kurzgeschichten, selten länger als 30 Seiten. Einen einzigen Roman („Kleine Aussichten“) hat die 82-Jährige in ihrem langen Schriftstellerinnenleben veröffentlicht. Ansonsten hat sie sich streng an das Genre der kleinen Erzählungen gehalten, das sie nach Ansicht vieler Kritiker und Kollegen meistert wie kaum ein anderer Autor.
Inzwischen ist sie eigentlich schon gar keine aktive Schriftstellerin mehr. „Ich werde wahrscheinlich nicht mehr schreiben“, hatte sie im Sommer einer kanadischen Zeitung erzählt. „Es ist nicht so, dass ich das Schreiben nicht geliebt habe, aber man kommt in eine Phase, wo man über sein Leben irgendwie anders denkt.“
Munro hat viele auch prominente Fans. „Dieses Buch ist so gut, dass ich hier gar nicht darüber sprechen will“, schrieb US-Schriftsteller Jonathan Franzen über ihren 2006 veröffentlichten Erzählband „Tricks“. „Zitate oder eine Kurzzusammenfassung können dem Buch nicht gerecht werden. Man kann ihm nur gerecht werden, wenn man es liest. Lest Munro! Lest Munro!“
Aber Kurzgeschichten seien ein mühsames Geschäft, klagt die Schriftstellerin. „Die Literaturkritik betrachtet Kurzgeschichten noch immer als eine Art Übungsform für den Roman, als mindere Disziplin jedenfalls, und ich habe das selber lange geglaubt“, sagte Munro, die den Literaturbetrieb – so gut es geht – meidet. „Was habe ich mich gequält bei Versuchen, einen Roman zu schreiben! Bis ich realisiert habe, dass die Kurzgeschichte die mir gemäße Form des Schreibens ist.“ Munro war eine Spätstarterin. Ihren ersten Erzählband (deutscher Titel: „Tanz der seligen Geister“) veröffentlichte sie 1968 mit fast 40 Jahren. Die Zeit zum Schreiben hatte die damalige Hausfrau und Mutter dem Alltag abgerungen, sich während des Kochens und während des Mittagsschlafs oder Schulbesuchs ihrer Kinder immer wieder an den kleinen Sekretär gesetzt. „Ich hatte schlicht zu wenig Zeit für das Schreiben, keine Zeit für große Würfe. Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen.“
Ihre Geschichten gleichen sich fast immer. Und immer sind sie nahe an Munros eigenem Leben. Es geht um Frauen im kanadischen Ontario, die erwachsen werden, sich verlieben und die schönen und tragischen Seiten des Lebens kennenlernen. „Aus diesem kleinen Strom füllt Munro seit 50 Jahren ihre Arbeit“, schreibt Schriftstellerkollege Franzen über sie. „Und genau diese Vertrautheit macht ihr Reifen als Künstlerin so atemberaubend sichtbar: Schaut, was sie mit nicht mehr als ihrer kleinen Geschichte ausrichten kann, je öfter sie zu ihrem Thema zurückkehrt, desto mehr findet sie dort.“
Munro, deren Mutter starb, als die Tochter ein Kind war, lebt noch immer in Ontario und ist längst Großmutter. Ihr zweiter Mann, ein Geograf, starb im April.
Munros Vorgängerinnen
Vor der Kanadierin Alice Munro ist der Literaturnobelpreis zwölfmal an eine Frau vergeben worden. Die bisherigen Preisträgerinnen im Schnelldurchlauf: 2009: Herta Müller (Deutschland, geb. 1953). Das Werk der in Rumänien aufgewachsenen Autorin, darunter der Roman „Atemschaukel“, verarbeitet schmerzhafte Erfahrungen unter der Ceausescu-Diktatur. 2007: Doris Lessing (Großbritannien, geb. 1919). Der feministische Roman „Das goldene Notizbuch“ gilt als ihr Hauptwerk. 2004: Elfriede Jelinek (Österreich, geb. 1946). Ihr als pornografisch kritisierter Roman „Lust“ wurde zu einem umstrittenen Bestseller. 1996: Wislawa Szymborska (Polen, 1923-2012). Die Lyrikerin veröffentlichte seit ihrer 1945 begonnenen literarischen Laufbahn insgesamt 16 Gedichtbände. 1993: Toni Morrison (USA, geb. 1931). Die aus einer schwarzen Arbeiterfamilie stammende Autorin und Hochschullehrerin hat sich mit der Rassenproblematik und den gestörten menschlichen Beziehungen in schwarzen Familien befasst. 1991: Nadine Gordimer (Südafrika, geb. 1923). Das Werk der Tochter jüdischer Einwanderer aus England und Litauen ist geprägt von der Vision eines gleichberechtigten Zusammenlebens von Schwarz und Weiß. 1966: Nelly Sachs (Schweden, 1891-1970). Die deutschstämmige Jüdin hat in ihren Gedichtbänden „In den Wohnungen des Todes“ und „Sternenverdunkelung“ das Grauen des Holocaust in Worte gegossen. 1945: Gabriela Mistral (Chile, 1889-1957). Vor allem mit ihren Liebesgedichten („Wenn Du mich anblickst, werd' ich schöner“) wurde Mistral bekannt. 1938: Pearl S. Buck (USA, 1892- 1973). Als das Hauptwerk der in China geborenen Missionarstochter gilt der Roman „Die gute Erde“. 1928: Sigrid Undset (Norwegen, 1882-1949). Ihre Romantrilogie „Kristin Lavranstochter“ ist ein Hauptwerk der norwegischen Literatur. 1926: Grazia Deledda (Italien, 1871-1936). Im Mittelpunkt ihrer Romane stehen die Menschen ihrer Heimat Sardinien. 1909: Selma Lagerlöf (Schweden, 1858-1940). In ihren Werken wie „Gösta Berling“ oder „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ zeigte sich Lagerlöf stets heimatverbunden.