
Hätte man es nicht mit eigenen Ohren gehört, würde man es kaum glauben: da steht eine kleine, zerbrechlich wirkende Frau auf der Bühne des bestens besuchten Würzburger Felix-Fechenbach-Hauses. Sie ergreift das Mikrofon und singt, spricht, erzählt, plaudert, bringt ihre Stimme zum Klingen, setzt sie als natürliches Instrument ein – und wie! Kraftvoll, glasklar, nuancenreich, variabel im Tempo und Rhythmus, dynamisch die Lautstärke ändernd, eine unverwechselbar markante Jazz-Stimme. Die Stimme gehört einer Frau, die in gut zwei Wochen ihren 90. Geburtstag feiern wird. Es ist die Stimme von Sheila Jordan, einer Legende unter den Jazz-Sängerinnen. Immer wieder thematisiert sie bei ihrem Würzburger Auftritt Stationen ihres Lebens.
Geboren und aufgewachsen in ärmsten Verhältnissen in Detroit, im US-Bundesstaat Michigan, lebt sie seit 1950 in New York und musizierte in den 50er und 60er Jahren mit Jazz-Größen wie Charlie Parker, Bud Powell, Thelonius Monk, Sonny Rollins oder Lee Konitz. Insbesondere Charlie Parker hat sie geprägt, wie sie im Song „The Bird“ erzählt. Jazz-Geschichte schrieb sie durch ihr Mitwirken beim Projekt „Escalator Over The Hill“, der wegweisenden Jazz-Oper von Sängerkollegin Carla Bley. Ihre Discografie umfasst rund fünf Dutzend Veröffentlichungen; in den letzten Jahrzehnten gibt sie ihr Wissen als Lehrerin an verschiedenen amerikanischen Hochschulen und auch bei Kursen in europäischen Städten weiter.
„Geschwister im Geiste“
Eine ihrer europäischen Schülerinnen ist die ehemalige Würzburgerin Sabine Kühlich, mit deren Formation „Lines for Ladies“ sie jetzt – und damit schließt sich der Kreis – beim 34. Würzburger Jazz-Festival gemeinsam auf der Bühne steht. Neben den Sängerinnen Kühlich und Band-Mitbegründerin Anne Czichowsky vervollständigen Lindy Huppertsberg (Bass und Gesang) und die formidable Würzburger Pianistin Tine Schneider das Quintett. Sie agieren mal im Duo, mal als Trio oder Quartett oder besonders eindrucksvoll als Fünf-Frauen-Formation und präsentieren sich als generationenübergreifende „Geschwister im Geiste“, wie Sheila Jordan ihre Mitmusikerinnen adelt.
Gemeinsam entfalten sie die gesamte Bandbreite der weiblichen Stimmen, von der alten Dame immer wieder angefeuert oder anerkennend unterstützt. Faszinierend zu beobachten, wie sich Jordan humorvoll und völlig ohne Eitelkeit einreiht, wenn junge Jazzerinnen männliche Jazz-Traditionen in eine weibliche Zukunft führen. Zweifellos das herausragende Ereignis, des in diesem Jahr an Höhepunkten nicht armen Festivals.
Zu diesen Höhepunkten zählten an beiden Tagen die jeweiligen Eröffnungsbands, die das Würzburger Festival zugleich zum 3. Bayerischen Landesjazzfestival machten. Am Samstag war es das bayerisch-tiroler Quartett Tiktaalik, die Gewinnerband des vom Bayerischen Jazzverband ausgelobten Förderpreises, die mit dynamisch angelegten Stücken Bop-Rhythmen in die Moderne transportierten. Saxofonist Oliver Marec und Pianist Luca Zambito zeichnen für die Kompositionen verantwortlich, die durch das kraftvoll-fetzige Schlagzeug von Simon Springer und coolen Bass von Clemens Rofner die Nähe zum Rock nicht scheuen.
Richtung Rock und Pop
Genauso furios, wenn auch etwas stärker der Tradition verhaftet, eröffnete das Bayerische Landesjazzensemble das Sonntagsprogramm. Die sechsköpfige All-Star-Formation des Verbandes um den Pianisten Tizian Jost und die in Würzburg bestens bekannten Lutz Häfner (Saxofon), Hennings Sieverts (Kontrabass, Cello) und Bastian Jütte (Schlagzeug) zeigte sich glänzend aufgelegt und sorgte mit ihrem abwechslungsreichen Hochenergie-Programm für Gute-Laune-Stimmung im auch am zweiten Abend voll besetzten Saal.
In welche Richtung sich der zeitgenössische Jazz entwickeln kann, demonstrierten die drei übrigen Formationen des Festivals. Die ohnehin immer fließenden Grenzen scheinen sich stärker in Richtung tanzbarem Rock und Pop zu verschieben, wie beim Mannheimer Trompeter Thomas Stiffling und seinem stark elektrifizierten Quintett Flow oder der Kölner Formation Three Fall von Lutz Streun. Three Fall greifen nicht nur in Gestalt der deutsch-kongolesischen Sängerin Melane Nkounkolo auf afrikanische Rhythmen zurück, sondern erweitern ihren von Tenorsaxofon und Bassklarinette (Lutz Streun) sowie Posaune (Til Schneider) geprägten Sound in Richtung einer tanzbaren Weltmusik, für die der herausragende Schlagzeuger Sebastian Winne eine rhythmisch vielfältige Grundlage legt.
Leicht und unbekümmert
Noch weiter in Richtung Tanzmusik, ja gar in Richtung Techno, verschiebt die im Münchner Techno-Club „Harry Klein“ beheimatete Bigband-Formation Jazzrausch die Grenzen. Die 15-köpfige Truppe um Posaunist Roman Sladek und Komponist und Elektroniker Leonhard Kuhn rockte bereits den diesjährigen Würzburger Hafensommer sowie den Schweinfurter Nachsommer. Es ist einfach sensationell, mit welcher Leichtigkeit und Unbekümmertheit die jungen Musiker die Bigband-Geschichte völlig neu interpretieren und in höchster musikalischer Perfektion Bläser- und Technorhythmen verbinden oder kontrastieren – und zum Festival-Finale sogar das reservierte Würzburger Publikum zum Tanzen bringen.
„Eines der besten Festivals der letzten Jahre“ meinte der ebenfalls mittanzende Jazz-Ini-Vorsitzende Jörg Meister noch leicht außer Atem. Dem ist im Gesamtblick auf die beiden Tage nichts hinzuzufügen.