„Lass sie fallen! Hey, komm schon!“ Grölendes Gelächter um mich herum. Wasser und Schweiß rinnen über das bärtige Gesicht über mir, vermischen sich mit den Regentropfen auf meiner Haut. Es ist Juni 1992. Himmel schwarz, Blitze zucken. Unter mir eine teichgroße Schlammpfütze. Gehalten werde ich von einem Fan, der so stark ist wie meine Gefühle für diese Band, die sich gerade anschickt, das Lied meines Lebens zu spielen. „November Rain“. Nothin' lasts forever. Even cold November Rain . . . Nichts währt für immer. Nicht einmal der kalte Novemberregen. Ein Vierteljahrhundert später wird mich dieser Satz wieder einholen. Beim Guns N'Roses-Konzert auf dem Maimarktgelände in Mannheim.
Duft von Anarchie
Doch an jenem Abend im Sommer 1992 trägt mich der bullige Mann tatsächlich auf ausgestreckten Armen über das Wasser. Ignoriert das Brüllen seiner Kumpels, die mich allesamt schon bis zum Hals im Schlamm baden sehen. Ein Gentleman auf einem Guns N'Roses-Konzert! Unglaublich.
Einem Konzert mit dem Duft von Anarchie. Freiheit. Entfesselung. Einem Hier und Jetzt und nichts danach. Schon der Weg hinauf zum Flugplatzgelände am Würzburger Schenkenturm! Das zerlegte Kassenhäuschen, ultimativer Beweis, dass uns hier die wildeste Rockband der Welt erwartet. Eine Band, zu der Skandale, Schlägereien, Exzesse, Drogen und Sex dazu gehören wie das rote Stirnband zu Axl Rose. Der Appetit der Band auf Zerstörung scheint grenzenlos. Der Titel ihres Debut-Albums „Appetite For Destruction“ wird von uns als Versprechen verstanden. Das Verruchte ist eingeflogen von Los Angeles in die Provinz. Und irgendwie haben wir das noch gar nicht begriffen. Wir wissen nur, dass wir dabei sein werden in der Menge von 45 000 Hardrock-Fans. Jedes Ticket ist ein Geschenk. Ein Geschenk Gottes.
„November Rain“ kracht durchs Gewitter
Alles ist verwirrend schön. Vor allem das Unwetter, das mit einer Macht über uns hereinbricht, als würde Gott persönlich vorbeischauen an diesem 20. Juni 1992 auf dem Schenkenfeld in Würzburg. Es donnert, grollt, blitzt und das inszenierte November-Gewitter kracht aus der 250-000-Watt-Anlage, vermischt sich mit der Naturgewalt über uns, der Nebel, der vor der Bühne aufsteigt, ist ein Naturprodukt der schwitzenden und vom Regen durchnässten Fans.
Für uns tut sich an diesem Abend der Himmel auf. So wie er sich auftut, wenn man 22-jährig, wild und frei durch Regen und Bierduschen tanzt und Rockmusik mehr ist als eine Playlist auf dem Smartphone. Wenn man weiß, dass jetzt das Lied der Lieder kommt. Die Nummer 8 auf dem Album „Use your Illusion I“. Die Ballade. Novemberregen. Acht Minuten, 56 Sekunden. Verschnaufpause vom ekstatischen Abrocken zwischen harten Jungs und Mädels, schwarzen Stiefeln, Totenkopf-Tattoos und Band-Stickern mit den von zwei roten Rosen umwickelten Pistolen.
Und wieder ist es Juni
Würzburg ist an diesem Abend passend zu den Songs zur „Paradise City“ geworden, zum „Jungle“. Und „Sweet Child O' Mine“ zum prägenden Lied. In dem geht es um Kindheitserinnerungen. Eben um die Zeit, in der alles so frisch war, wie der strahlend blaue Himmel. „Ihr Haar erinnert mich an einen warmen sicheren Ort, an dem ich mich als Kind versteckt hätte, um zu beten, dass Donner und Regen ruhig an mir vorbeiziehen“, singt Axl Rose in Würzburg in weiser Vorahnung.
Und wieder ist es Juni. Wieder spielen Guns 'N Roses in Deutschland. Der 20. Juni 1992 in Würzburg geht für mich über in den 24. Juni 2018 in Mannheim. Voller Hoffnung. Voller guter Erinnerungen im Herzen marschiere ich zum Maimarktgelände. Nicht gemeinsam singend, lachend, im Pulk fröhlicher Fans. Eher einsam. Distanziert. Guns N'Roses. Was mag aus ihnen geworden sein? Wie damals ist der Himmel bewölkt. Wie damals freue ich mich auf die Kracher einer Hammerband.
Doch dann passiert es. Die Ernüchterung bricht sich in rasender Schnelle Bahn. Schon beim Intro kann ich nichts mehr fühlen, das mich in irgendeiner Weise mit der Band verbindet. Mein Herz schlägt nicht mehr für sie! Und es entfernt sich mit jeder Minute, in der Axl Rose und Slash vergeblich versuchen, die Bühne und ein antriebsloses Publikum zu rocken, ein Stück mehr von meiner alten Liebe.
Alt und abgeklärt
Nie wieder werde ich von dieser naiven und ungetrübten Freude beseelt sein, die mich bis zu diesem Abend erfüllt hatte beim Gedanken an Guns N' Roses. Ein neues Bild legt sich über meine Erinnerungen. Das Bild einer traurigen Veranstaltung, trauriger als jede Fanmeile nach einem verlorenen WM-Spiel der Nationalelf. Ja, wir sind alle älter geworden. Aber so alt und abgeklärt habe ich mich lange nicht gefühlt.
Die Bühne in Mannheim ist groß. Aber sie sieht nicht mehr meine ganze Welt bewegend groß aus. Axl Rose rennt über die Bühne. Aber es ist nicht mehr mein Axl. Natürlich braucht er länger als in meiner Erinnerung, um sie zu überqueren. Aber in meiner Erinnerung ähnelte er auch nicht Donald Trump. In meiner Erinnerung sang er begnadet. Jetzt höre ich den übermäßigen Hall, mit dem man gerne gesangliche Unzulänglichkeiten vertuscht. Nichts ist mehr wie damals. Nicht dass ich das erwartet hätte. Aber jetzt haut mich meine Enttäuschung doch um. Und ich sehne mich ins Jahr 1992 zurück.
Wie verkleidete Rockfan-Puppen
1992 gab es keine Fans, die bewegungslos rumstanden und sich bei einem entrückten Gitarrensolo von Slash einen Latte Macchiato und eine Waffel holten. Mein Gott! Wo ist der Zauber hin? Das neue Bild ist hartnäckig. Erbarmungslos. Nichts ist mehr echt.
Wie verkleidete Rockfan-Puppen starren Menschen emotionslos nach vorne. Kinder, Mütter, Väter, Opas, Omas. Die Älteren wollen es offensichtlich noch mal wissen, denn sie haben sich in alte Fan-T-Shirts gezwängt. Doch man kann nicht mehr in alte Zeiten zurückschlüpfen. Kann nicht mehr die Zeit oder gar die Jugend zurückholen. Auch ich nehme mir gerade mehr als ich bekomme. Es ist eine bittere Erkenntnis. Hätte meine Mutter nicht heimlich meine zerrissenen, verdreckten Konzert-Jeans (vermutlich mit dem Originalschweiß von Axl Rose, wie ich gerne behauptete) 1999 entsorgt, dann hätte ich sie jetzt an.
Frustrierte Gesichter
Hier und da tauchen blassgesichtige, brave Jugendliche auf, die ziellos herumlaufen und auf ihr Smartphone starren. Als würde da nicht die legendäre Weltklasse-Hardrockband Guns N'Roses spielen, sondern eine unbekannte Schülerband. Aber wer will es ihnen verdenken?
Slash, der Gitarrist mit dem schwarzen Zylinder, der uns so begeistert hat mit seinen extravaganten Gitarrenriffs damals, klingt monoton. Gibt ein Solo nach dem anderen, keines davon vermag das Publikum um mich herum zu bewegen. Oder sind wir einfach alle zu alt, zu abgeklärt, zu verwöhnt, um uns von irgendetwas mitreißen zu lassen? Aber nein, andere Musiker und Fans schaffen es doch auch, nach Jahrzehnten eine Symbiose zu bilden, als läge kein Jahr dazwischen. Aber hier jetzt einfach hüpfen, kreischen, headbangen – unmöglich. Und auch unehrlich. Aber vor allem peinlich. Und genau deswegen tut das zumindest in der hinteren Hälfte des Publikums so gut wie niemand.
Viele eigene Songs hat Guns N'Roses im Lauf ihrer Geschichte nicht auf die Rille bekommen, dafür aber einige legendäre Einspielungen. Allesamt entstanden Anfang der 90er Jahre. Und genau die würde ich jetzt gerne hören. Und ich möchte behaupten, dass von den 50 000 Fans mindestens 45 000 das auch so sehen.
Doch die Band lässt das Publikum mit seiner Sehnsucht nach den alten Lieblingsliedern konsequent alleine. Einzige Ausnahme: „Welcome to the Jungle“. Müde und deprimiert ziehen sich die ersten Fans zurück. Nach eineinhalb Stunden neuerer und durchschnittlicher Songs kommt „Live and Let Die“. Es ist das erste Mal an diesem Abend, dass sich auch weiter hinten im lethargischen Publikum ein paar Hände in die Luft recken.
Barfuß headbangen im Schlamm
Ich träume mich weg. Nach Würzburg. Zum Schenkenturm, der damals bebte. Ich bin wieder dort! Einen Turnschuh habe ich schon ganz am Anfang im Morast und Getümmel verloren, den anderen später weggeschmissen. Ich habe wie Axl Rose ein rotes Tuch um den Kopf geknotet, stecke in zerrissenen Jeans und einem schwarzen Totenkopf-T-Shirt. Headbange wie wild barfuß im Schlamm.
„You ain't the first“, „Sweet Child O' Mine“, „Back off Bitch“, „Paradise City“, „Get in the ring“, Don't Cry“, „Knockin' On Heavens Door“. Ein nie dagewesenes musikalisches Feuerwerk in einem nie dagewesenen Platzregen über Würzburg.
Und jetzt? Jetzt laufe ich nach zwei Stunden schlechter Beschallung enttäuscht zum Parkhaus in Mannheim. Wie Tausende andere verlasse ich das Konzert vor seinem Ende. Die Absätze meiner Stiefel hallen in der Tiefgarage. Vermischen sich mit den Klängen von „November Rain“. Meinem Lied! Meiner Guns- N'Roses-Lebenszeiterinnerung.
Zu spät. Lose my Illusion.
Zu spät! Es kommt zu spät. Als Heldensong in einem legendären Sommergewitter für immer verloren. Ich habe heute eine Erinnerung kaputt gemacht. „Use your Illusion“. „Nutze Deine Einbildungskraft“, beschwört Axl Rose im Song „Locomotive“. Geht nicht mehr. „Lose my Illusion“ ist der neue Titel, der Guns N'Roses jetzt für mich überschreibt. Genau wie der 22. Juni 1992 vom 24. Juni 2018 überschrieben wurde. Der Tag, an dem meine Konzert-Helden-Band direkt vor meinen Augen starb.