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Eine Hommage an das Telefonbuch
Hommage an ein Fossil: Das Telefonbuch ist ein Verzeichnis wie kein anderes. Doch es beginnt sich aufzulösen in den Wolken der Digitalisierung.
buch2       -  Gerahmt – in Gold! Das aussterbende Telefonbuch ist als Kulturgut der Ausstellung wert.
Foto: agt | Gerahmt – in Gold! Das aussterbende Telefonbuch ist als Kulturgut der Ausstellung wert.
Von unserem Mitarbeiter Michael Schreiner
 |  aktualisiert: 15.04.2017 03:31 Uhr

Dinge verschwinden manchmal aus unserem Leben, ohne dass wir es bemerken. Vertraute Dinge. Praktische Dinge. Schleichen sich gleichsam lautlos davon. Große Dinge von einigem Gewicht, für die jeder von uns doch einen guten Platz gefunden hat zu Hause. Dann werden sie irgendwann unsichtbar, überflüssig. Wann haben Sie zuletzt in einem dicken Telefonbuch geblättert? Diese hauchdünnen Seiten, das trockene Rascheln, das Flattern und Knistern, die Biegsamkeit. Die feine graue Schraffur des monotonen Schriftbilds. Bobinger, Böhmer, Böswald, Boldt, Borufka, Bosch . . .

Graham Bonney. „Wähle 3-3-3 auf dem Telefon, wähle 3-3-3 und du hast mich schon.“ Haben Sie noch ein Telefonbuch? Vermissen Sie das Telefonbuch? Vermissen Sie den Quelle-Katalog? Sie kaufen online und suchen online? Der Unterschied aber ist: das Telefonbuch (wie auch den Schlagersänger Graham Bonney) gibt es noch, den Quelle-Katalog schon lange nicht mehr.

Es erscheinen bis heute 140 regionale Telefonbücher in Deutschland. Gesamtauflage fast 30 Millionen Exemplare – jährlich. Es dürften die einzigen Bücher sein, die so viele Leute besitzen, die aber niemand je gelesen hat. Oder haben Sie je in einem Telefonbuch alle Namen beispielsweise der Kapitel 13 bis 19 (M–S) nachgesehen?

Telefonbücher werden genutzt, nicht gelesen. Schon immer wurden sie auch gerne von showbegabten Kraftmeiern zerrissen. Telefonbuchzerreißen war schon in den 30er Jahren eine Attraktion. 1993 wurde der Kraftsportler Franz Bierbaum (ein Name wie von Alfred Döblin erfunden) in der TV-Show „Wetten dass..?“ ein Star, als er in zweieinhalb Minuten 50 Telefonbücher der Stadt Wien zerfetzte.

Die Fernsprechbücher dürften in unseren Tagen jedoch schon bei Drucklegung die höchste Auflage von Altpapier sein, auch wenn Umfragen noch vor wenigen Jahren eruiert haben wollen, dass noch immer 80 Prozent der Deutschen regelmäßig in dem Wälzer blättern. Die Werbekunden wird?s freuen – womöglich ist die frohe Botschaft ja auch vor allem an sie gerichtet gewesen. Die Telekom will den Papier-Klotz nun aber loswerden und bietet ihre Telefonbuchtochter „DeTeMedien“ zum Verkauf an.

Das „Amtliche Fernsprechbuch“, wie das Standardwerk bis zur Privatisierung der Post 1981 hieß und kostenlos (das ist es bis heute) an jeden Haushalt ging, ist ein sterbendes Relikt aus einer anderen Zeit. Ein Fossil wie die Landkarte, die denselben Weg gegangen ist und heute Navi heißt. Oder der Brockhaus, der sich zum Lexikon Wikipedia entmaterialisiert hat. Schon 1986 begann mit dem Erscheinen der ersten elektronischen Ausgabe die Erosion des Papierwälzers Fernsprechbuch. 1990 folgte die erste CD-ROM.

Aber ein Buch ist ein Buch. Mit Rücken. Mit Eigengewicht. Mit Inhalt, der ohne Strom vor den Augen erscheint. So real wie die Bibel in der Nachttischschublade des Hotelzimmers. Eine Erzählung mit vielen, vielen Figuren, aber ohne Handlung, ohne Verben. Immerhin: Literaturgroßkritiker Marcel Reich-Ranicki verriss das Telefonbuch nicht, sondern lobte es in einer Werbekampagne. „Hier triumphiert die Sachlichkeit!“ Und: „Dieses Buch wird niemals geschwätzig.“

Zum Beispiel Band 91, Augsburg, Donauwörth, Erscheinungsjahr 2011. Und, da glaubt man wieder an 333 und Magie, exakt 1000 Seiten. Alle Namen, alphabetisch. Alle Leute. Kurz und schlicht wie „Still W. 716503“. Oder ausführlich und prosaisch wie „Taxi-Funktaxi Dialyse- und sitzende Krankenfahrten Bestrahlungsfahrten 1414“. Un-tereinander aufgeführt, eine Liste ohne Ende. Buchstaben, Zahlen, Adressen, Straßen, Hausnummern. Wald-5, Milchgasse 14, Siebenbürger-13A, Weihermahd 32, Lindenweg 26, Dr-Kämpf-18, Schlosserweg 1, Pestalozzi-8.

Niemand geht verloren. Sie sind auch drin im Register. Alle vermerkt, verzeichnet und vorhanden. Und Namen gibt?s! Killermann. Hänsle. Osti. Aber eben auch seitenweise Schmid und Schmied und Schmidt und Mayer und Mayr und Meier. Litaneien in jeder Spalte. Seiler Erich, – Erwin u. Gisela, – Eva, – Ewald, – Fabian, – Franz, – H., – Hannelore u. Werner, – Heinrich, – Helmut, – Helmut, – Herta, – Horst. Alle Anschlüsse – bis auf die „Geheimnummern“. Jeder ist erreichbar und aufgehoben in der Gemeinschaft der Telefonanschlussinhaber. Man muss ihn nur finden.

Zeigefinger anfeuchten zum Blättern und mit dem Fingernagel Zeile für Zeile hin-unterscrollen. Unfried, Ungar, Unger, Ungureanu, Unseld, Unterberg, Unterseher, Unucka, Unzner . . . Die meisten mit Straße und Hausnummer. Wenn die nicht stimmt, bekommt man jahrelang Post an die falsche Adresse, manchmal geht sie dann zurück. Dem Autor dieses Textes ist es über Jahre trotz schriftlicher und fernmündlicher Intervention nicht gelungen, die falsche 4 1/2 aus dem Telefonbuch herauszubringen und durch die korrekte 8 ersetzen zu lassen.

Die 91 ist eben auch ein Adressbuch. Das Telefonbuch macht uns zu öffentlichen Personen. Das ist auszuhalten, weil man in der Masse der Namen untergeht. Es ist gerade in der Fremde ein besonderes Gefühl, die unbekannten Leute da draußen verzeichnet und geordnet, auf Distanz und erreichbar zugleich zu wissen in dem fetten Telefonbuch, das zum Beispiel in Beaumont, Texas, auf dem speckigen Holztisch eines Motelzimmers liegt.

Das Telefonbuch zum Blättern gehört in eine Litanei des schleichenden Verschwindens. Wählscheibe, Telefonzelle, Telefonkarte, Telefonkabel, Festnetz. Alles verschwindet in die digitale Wolke, die unsichtbar über uns schwebt und in der sich auflöst, was einst mit Händen zu greifen war. Aufgabe für analoge Nostalgiker im öffentlichen Raum: Suchen Sie in Ihrem Ort einmal eine der letzten noch existierenden Telefonzellen auf. Es gibt keine? Dann gehen Sie doch im Nachbarort suchen. Gefunden?

Dann werden Sie wahrscheinlich feststellen: Ein Telefonbuch gibt es hier nicht mehr. Ein in schwere dunkelgraue Pappe gebundenes Telefonbuch, das man aus seiner Hängevorrichtung hinaufwuchten und aufschlagen konnte, entfalten wie einen toten Vogel. Früher. Bücher, die gezeichnet waren von Benutzungsspuren. Abgerissene Ecken. Kugelschreiberkritzeleien. Herausgerissene Seiten. Unterstrichene Namen. Kryptische Notizen – „Erna 23 567“, „2 Uhr“ oder „13,20 DM einfach“. Brandlöcher von Zigarettenglut, schwarze Trauerränder zwischen Göhde und Görmer.

1881, als in Berlin das erste deutsche Telefonbuch herausgegeben wurde mit dem Titel „Verzeichnis der bei der Fernsprecheinrichtung Betheiligten“, war die Sache noch übersichtlich. 185 Einträge – das war Avantgarde. In diesem exklusiven Kreis waren Adlige und Großbürger – vermutlich also jene Zielgruppe, die sich, als das Telefon Massenmedium wurde, eher nicht mehr einreihen wollten in die Kolonnen von Schmidtkes und Kleins und Bauers und Müllers. Weniger als 100, genau 98 Teilnehmer, verzeichnete das erste Telefonbuch der Schweiz – dafür erschien es aber auch schon ein Jahr früher, 1880.

Das allererste Telefonbuch aber wurde 1878 in den USA veröffentlicht, in New Haven. Sonderlich dick war es nicht. Es enthielt 50 Einträge. Man konnte es noch in einem Zug ganz durchlesen. Die deutsche Telefonbuch-App, die sich der mobile Beteiligte heute auf sein Smartphone lädt, sucht in etwa 30 Millionen Einträgen.

Das Telefonbuch steht nicht nur für eine Ära des Analogen – in ihm ist auch etwas dokumentiert, was immer weniger zusammengehört: Mensch, Anschluss und Adresse. Durch den Siegeszug der mobilen Kommunikation ist die Erreichbarkeit nicht mehr an einen festen Ort gebunden. Mayr kann überall sein, es zerfällt die alte, jahrzehntelang unauflösbare Dreieinigkeit von Anschluss, Teilnehmer und Ort.

Als Metapher ist das Telefonbuch von jeher beliebt. Dick, aber inhaltsleer. Voller Text, aber langweilig. Wie oft haben Literaturkritiker geschrieben, es sei spannender, im Telefonbuch zu lesen als diesen einen Roman. Wie oft wurde die Fallhöhe strapaziert, wenn wir hörten: Der ungemein populäre Star XY könnte aus dem Telefonbuch vorlesen und die Leute hingen noch immer gebannt an seinen Lippen!

Künstler schätzen das Telefonbuch, weil es einerseits ordinär und gewöhnlich, andererseits aber aufgeladen ist mit dem spannendsten Stoff: Menschen, Namen, Adressen, Biografien, Ehen, Berufe.

Der Franzose Christian Boltanski, ein Spurensicherer und einer der international bekanntesten Konzeptkünstler, sammelt seit langem alte Telefonbücher, um die Namen der Menschen, die einst gelebt haben, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Denn es ist ja auch wahr: Eher hat jemand keinen Grabstein, als dass er nie in einem Telefonbuch stand. Der US-Schriftsteller Stephen King hat als Junge die Todesanzeigen seiner Heimatzeitung ausgewertet, um sodann die Namen der Verstorbenen aus dem Telefonbuch zu streichen. Das wird bald nicht mehr möglich sein. Wir verlieren ein Kulturgut, das Buch der Bücher.

 
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