Die eigene Lesezeit ist begrenzt. Kein Leben lang genug, um tatsächlich all jene Bücher zu lesen, die es unbedingt verdient hätten, gelesen zu werden. Aber ganz sicher sagen kann man dies: Wenn nicht zumindest eines, oder zwei oder drei von Philip Roth unter den gelesenen Büchern sind, dann hat man als Leser auf jeden Fall etwas sehr Großes verpasst. Nun ist Philip Roth, der große amerikanische Schriftsteller, im Alter von 85 Jahren gestorben. Er hinterlässt ein literarisches Erbe von Weltrang.
Seit sechs Jahren schrieb Philip Roth nicht mehr. Weil er das Beste bereits geschrieben habe und jedes Talent seine Zeit habe, bis es sich erschöpfe – wie er in einem seiner letzten Interviews mit der „New York Times“ noch einmal erklärte: Stattdessen nutzte er die Zeit, um in seiner Stadtwohnung in Manhattan oder auf seiner Farm in Connecticut noch mehr zu lesen. Keine Romane mehr – davon habe er genug geschrieben –, sondern Sachbücher. Den Entschluss, mit dem Schreiben aufzuhören, sah er als Befreiung. Weil er das Schreiben stets als Kampf empfand und nach jedem fertigen Werk die Angst hatte, das ihm das nächste nicht gelingen könnte. Jedes Mal, erklärte Roth, stehe er er erneut vor der Frage: „Was zur Hölle soll ich schreiben?“
Aber was zur Hölle gelang ihm dann jedes Mal aufs Neue und in welchem Tempo! Seit seinem Debüt „Goodbye Columbus“ im Jahr 1958 mehr als 30 Romane! Und zwischen ihrem Erscheinen lag oft nur ein Jahr, bis er dann mit dem Beenden von „Nemesis“ entschlossen den Ruhestand begann.
Zeit seines Lebens war Philip Roth einer, der beim Schreiben nahe bei sich blieb und das Spiel mit der eigenen Identität genoss: Er schrieb über das, was er kannte, was ihn umtrieb, was ihn ausmachte: Immer wieder also über Newark, die glanzlose Nachbarstadt von New York, in der er als Sohn einer jüdischen Emigrantenfamilie im Arbeiterviertel Weequahic aufwuchs. Immer wieder also auch über das Leben als Jude in Amerika, über das Leben als Schriftsteller, über das Leben als Mann, und immer wieder über Nathan Zuckermann, sein alter ego.
Dazu ging es immer viel um Sex, vielleicht tatsächlich die komischste menschliche Betätigung – zumindest, wenn ein so ungeheuer witziger Schriftsteller Roth darüber schrieb. Zum Beispiel in „Portnoys Beschwerden“, erschienen 1969, in dem er einen sexbesessenen jüdischen Intellektuellen auf die Psychiatercouch legt. Nur soviel: Es gibt darin eine Stelle mit einer Scheibe Leber als Lustobjekt, das später gebraten auf dem Tisch landet, weshalb der Roman ihm nicht nur Weltruhm einbrachte, sondern auch den Ruf als schreibender Lustbold und jüdischer Nestbeschmutzer. Was Philip Roth nicht daran hinderte, genau so weiterzumachen: mit Sarkasmus, Witz, Lust, Wut und Melancholie die eigene jüdische Identität spiegelnd und gleichzeitig dem ganzen Lande den Spiegel vorhaltend.
Welchen Roman man unbedingt gelesen haben sollte? Es ist eine dieser Fragen, auf die man nur mit: „Unbedingt, aber auch noch den und den“ antworten möchte. Unbedingt also „Amerikanisches Idyll“ (1997), in dem man mit einem jüdischen Vater verzweifelt, dessen Tochter als Terroristin einem Unschuldigen den Tod bringt.
Unbedingt „Mein Mann als Kommunist“, in der Roth auch die Ehe mit der Schauspielerin Claire Bloom verarbeitet.
Unbedingt „Jedermann“, in dem er das Alter als „Massaker“ beschreibt.
Unbedingt „Nemesis“ (2010), den Abschluss. Da schickt er den jungen Sportlehrer Bucky Cantor, einen seiner berührendsten Helden, in einen hoffnungslosen Kampf gegen das Schicksal.
Unbedingt, unbedingt, unbedingt. Als vor mehr als zehn Jahren die „New York Times“ ihre Leser nach den besten Romanen des vergangenen Vierteljahrhunderts befragte, landeten sechs Romane von Roth auf der Liste, das war ein Fünftel! Aber wenn man sich nun auf einen Roman festlegen müsste, dann auf diesen: „Der menschliche Makel“, dieses im Jahr 2000 erschienene Meisterwerk.
Wenn es das Ziel von Literatur ist, zumindest ein klein wenig die Essenz dessen, was das Menschsein ausmacht, zu greifen und in Worte zu fassen, dann gelingt es Roth in diesem Roman, der die Wucht einer griechischen Tragödie besitzt. Vordergründig handelt er von einem alternden Professor, dem ein paar unbedachte Worte und die Affäre mit einer Putzfrau zum Verhängnis werden. Doch worüber Roth schreibt, ist dies: Über den Makel, den jeder Mensch trägt, der ihn nie ganz mit sich im Reinen sein lässt. Über die Unvollkommenheit, der die Menschen nicht entfliehen können. Der Vollkommenheit des Schreibens aber ist Roth so nahe gekommen wie wenige seiner Generation. Er hat jeden wichtigen Literaturpreis – wie den Pulitzer – gewonnen, manche wie den National Book Award auch mehrfach. Jeden wichtigen – bis auf den einen: Was zur Hölle hätte er eigentlich noch schreiben sollen, um das Nobelpreiskomitee zu überzeugen? Vielleicht also ist es ganz passend, dass der Preis in diesem Jahr nicht vergeben wird.
In seinem letzten Interview mit der „New York Times“ hat man noch einmal die Wut des Philip Roth gespürt – als er über den derzeitigen Präsidenten und die politischen Entwicklungen seines Landes räsonierte und Donald Trump als die „Katastrophe des 21. Jahrhunderts, die entwürdigendste Katastrophe der USA“ bezeichnete. Ansonsten aber zeigte sich da ein Mann, der mit sich im Reinen war, so weit das einem Menschen möglich ist. Er schlafe lächelnd ein und wache lächelnd auf.
Philip Roth starb in einem Krankenhaus in New York an Herzversagen. Er war zwei Mal verheiratet, hatte keine Kinder. Seine privaten Bücher, etwa 4000, hat er der Bibliothek von Newark gespendet. 4000 Bücher in einem Leben! Hoffentlich ist zumindest eines von Philip Roth darunter.