Als Frankreich vor fünf Jahren den islamischen Gesichtsschleier verbot, erhielten die Pariser Senatoren Beifall von ungewohnter Seite. „An Europa und Frankreich möchte ich als Botschaft schicken – der Niqab hat keine Grundlage im Islam, er schadet vielmehr dem Ansehen des Islam“, schrieb Abdel Muti Al-Bayyumi, Mitglied des Hohen Geistlichen Rates der Al-Azhar in Kairo, der höchsten Lehrautorität der sunnitischen Muslime.
In dieser heiklen Frage wusste Al-Bayyumi sich auch mit seinem Chef einig, Großscheich Ahmed al-Tayeb. Die Debatte am Nil losgetreten allerdings hatte im Oktober 2009 dessen verstorbener Vorgänger Mohammed Said Tantawi, als er bei einem Schulbesuch ein verschleiertes zwölfjähriges Mädchen rüde abkanzelte und aufforderte, sein Gesicht zu zeigen. Ihre Kopfbedeckung habe nichts mit dem Islam zu tun, schimpfte der damalige Chefgelehrte und ließ Campus und Wohnheime der Al-Azhar für voll verhüllte Studentinnen sperren.
Die Universität Kairo, die größte akademische Institution des Landes, ging kürzlich noch einen Schritt weiter. Mit Beginn des Wintersemesters 2015 verbot sie den Gesichtsschleier für Professorinnen. „Der Gesichtsausdruck ist essenziell für jeden Lehrprozess, und die Entscheidung verstößt weder gegen die Scharia noch gegen die Verfassung“, hieß es in der Begründung.
Religions- und Meinungsfreiheit
Die meisten anderen Universitäten schlossen sich dem nicht an. Die 74 betroffenen Fakultätsmitglieder zogen vor Gericht, wo sie gute Chancen haben. Sie pochen nicht primär auf den Koran, sondern auf ihre Religions- und Meinungsfreiheit. Und schon einmal – bei einem ähnlichen Verbot 2010 – hatten sie vor dem Obersten Verwaltungsgericht recht bekommen.
Der Niqab stammt ursprünglich von der Arabischen Halbinsel, wo sich Beduinen und ihre Frauen mit Gesichtstüchern gegen die scharfen Wüstenwinde schützten. Im Koran ist er nicht erwähnt. Im Osmanischen Reich kam der Gesichtsschleier zunächst in der Hauptstadt Konstantinopel für Haremsfrauen in Mode. Im 19. Jahrhundert breitete er sich im Nahen und Mittleren Osten aus als exklusive Kopfbedeckung für Oberschichtfrauen, egal ob Musliminnen oder Christinnen, die sich in ihren Häusern bewusst von der Öffentlichkeit des Straßenlebens fernhielten.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwand dieser Edel-Niqab aus den islamischen Gesellschaften entlang des Mittelmeeres, bis er nach dem Ölboom in den siebziger Jahren über die Rückkehrerfamilien aus Saudi-Arabien wieder auftauchte – diesmal als religiöser Marker im Straßenalltag und bei Frauen aller gesellschaftlichen Schichten. Das säkulare Ägypten reagierte indigniert. Noch in der letzten Rede vor seiner Ermordung verspottete Präsident Anwar al-Sadat die schwarzen Hüllen als „Zelte“. Drei Jahrzehnte später gehört der Gesichtsschleier am Nil genauso selbstverständlich zum Alltag wie in Saudi-Arabien, dem Jemen und den Golfstaaten.
Für Tunesien dagegen, dem Geburtsland des Arabischen Frühlings, war das Auftreten von Salafisten nach dem Ende der Diktatur eine neue Erfahrung. Seit der Unabhängigkeit des Landes 1956 hatte es niemals Frauen mit Niqab im Straßenbild gegeben. Schon bald terrorisierten die Ultraorthodoxen, die großzügig aus Katar und Saudi-Arabien finanziert wurden, die Bevölkerung mit moralischen Prügelkampagnen, zogen gegen Freiluftkonzerte und Alkoholgeschäfte zu Felde.
Zerreißprobe auf dem Campus
Den härtesten Konflikt lieferten sich die Fanatiker an der Manouba-Universität von Tunis. Sieben Monate lang legten sie bis zum Sommer 2012 die geisteswissenschaftliche Fakultät lahm, weil sich deren Dekan Habib Kazdaghli weigerte, voll verschleierte Studentinnen bei Vorlesungen und Prüfungen zuzulassen. Anders gekleidete junge Frauen wurden auf dem Campus angepöbelt, Hochschullehrer beschimpft und verprügelt, Habib Kazdaghli tagelang in sein Büro eingesperrt.
Doch die Fakultät gab nicht nach, die Zerreißprobe dokumentierte später ein Professorenkollege in dem Buch „Chronik aus Manoubistan“. Man habe die Hoffnungen der Revolution verteidigt und für ein modernes und demokratisches Tunesien gekämpft, schreibt Habib Kazdaghli in dem Vorwort. „Aber der Weg ist noch weit und die Wachsamkeit muss hoch bleiben.“