
Aufhören? Bei bestimmten Künstlern will das nicht so recht funktionieren. Es ist wie eine Sucht; die Bühne, das Lampenfieber, der Applaus, die Wogen aus Glückshormonen. Bis zwei Wochen vor seinem Tod am 1. Oktober 2018 genoss Charles Aznavour noch dieses Gefühl, mit 94 Jahren. In einem Interview hatte er sich einmal gewünscht, zu seinem 100. Geburtstag als der älteste aktive Sänger der Welt auftreten zu können. Eigentlich wäre das am heutigen Mittwoch gewesen. Wer den stets freundlichen, immer ein wenig melancholisch dreinblickenden kleinen Mann in seinen letzten Lebensjahren erlebte, hätte sich das vorstellen können.
Alle lagen Charles Aznavour zu Füßen
Charles Aznavour komponierte in seiner mehr als sieben Jahrzehnte währenden Karriere mehr als 1000 Chansons, er verkaufte 180 Millionen Tonträger. Doch das war nur die eine Seite seiner Medaille, auf der nie ein winziges Quäntchen Patina haften blieb. 1960 verkörperte er die Rolle des tragischen Klavierspielers in François Truffauts Nouvelle-Vague-Klassiker „Schießen Sie auf den Pianisten“. Vor allem in Deutschland kennen sie ihn noch als den Spielzeughändler Sigismund Markus, der den zwergenwüchsigen Oskar Matzerath in dem 1979 von Volker Schlöndorff verfilmten Grass-Bestseller „Die Blechtrommel“ regelmäßig mit neuen Schlagwerkzeugen versorgt. Auch als Schauspieler blieb er der ewige Chansonier: wehmütig, still in sich hinein weinend, voller unerfüllter Träume.
Édith Piaf hat Charles Aznavour unter ihre Fittiche genommen
Charles Aznavours armenische Eltern flüchteten aus ihrer Heimat, um dem Völkermord an ihren Landsleuten zu entkommen, er selbst erblickte 1924 im Pariser Studentenviertel Quartier Latin als Schahnur Waghinak Asnawurjan das Licht der Welt. Vielleicht wäre er nie ein Weltstar geworden, wenn ihn nicht eine Chanson-Koryphäe wie Édith Piaf nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter ihre Fittiche genommen, seine Texte interpretiert und ihn auf die Pariser Bühne geschoben hätte.
Aznavour selbst sang auf Französisch, auf Italienisch, auf Deutsch, auf Englisch. Er schrieb Lieder über Transvestiten und Kriegskinder, über das Alter, über die Liebe im Wandel. Immer schienen seine Texte – klassisch existenzialistisch eigenen elementaren Erfahrungen abgerungen – sehr nah an ihm selbst. Sein universaler Glanz ist selbst heute noch ungebrochen. Charles Aznavour überstrahlte und überlebte die komplette linke französische 68er-Kultur, Asterix und die Nouvelle Vague waren in den USA nie so populär wie er. Bestes Beispiel: „She“ schaffte es 1999 in den Streifen „Notting Hill“ mit Julia Roberts; eines von Aznavours populärsten Liedern. Weil es der Liebe keine Bedingungen stellt, sondern sich ihr einfach ergibt.