Von heute aus gesehen mutet es geradezu unheimlich an, dass Goachino Rossini und sein Librettist Luigi Balocchi die Protagonisten ihrer 1825 (!) uraufgeführten Oper "Il viaggio a Reims" das Loblied auf die Verständigung der Völker Europas singen lassen. Noch dazu, weil bei dieser Einigkeitsvision ausgerechnet ein "deutscher Major" vorneweg seinen Toast ausbringt, zu jener Melodie, die Haydn einst als Hymne "Gott erhalte Franz, den Kaiser" in Töne setzte und die später zur Nationalhymne der Deutschen wurde. Ganz ähnlich, mit national eingefärbten Melodien, tun das im Finale der Oper auch der Engländer und der Spanier, die Polin und der Russe... Was für ein Stoff, der geradezu ruft nach einem Zugriff durch zeitgenössische Opernregie!
Andererseits, so einfach ist das auch wieder nicht, ist die Beschwörung der Einigkeit der Völker doch eingebettet in die Huldigung des Königs von Frankreich: "Il viaggio a Reims" wurde komponiert aus Anlass der Krönung des französischen Regenten Karl X., was das Libretto auch deutlich benennt. Wie aber geht man um mit so einem längst vom Mantel der Geschichte bedeckten Adressaten, der mittendrin steckt in einer Problematik, die uns Heutigen anhaltend auf den Nägeln brennt?
Die "Reise nach Reims" wird zur Reise in den Klamauk
Rossinis "Reise nach Reims" ist, wiewohl ein glänzend geratenes Stück, wenig bekannt und von den Bühnen sträflich missachtet. Die Handlung mutet kompliziert an, entfaltet aber, einmal in Bewegung gesetzt, unwiderstehlichen Reiz. In einem französischen Badehotel hat sich eine illustre Gesellschaft versammelt aus zahlreichen Ländern Europas. Gemeinsam beschließen die Frauen und Männer – zwischen denen, bei einigen zumindest, amouröse Bande gewachsen sind, aber auch Eifersüchteleien – , aufzubrechen nach Reims, wo Karl X. gekrönt werden soll. Nicht vorhandene Fortbewegungsmittel machen dem Vorhaben zunächst einen Strich durch die Rechnung, doch dann erfährt man, dass es auch in der Hauptstadt Paris Feiern zur Krönung geben soll, woraufhin die Gräfin Folleville alle in ihr Haus dorthin einlädt.
Das StaatstheaterAugsburg hat "Il viaggio a Reims" nach wiederholten pandemiebedingten Verschiebungen jetzt neu inszeniert in der Ausweichspielstätte im Martinipark. Die italienische Regisseurin Stefania Bonfadelli hat die bei Rossini in der alten Welt der Badekuren für Edle und Vornehme angesiedelte Story in die neuere Sphäre der Sport und Wellness Suchenden verlegt. Die Bühne zeigt die ganze Aufführung hindurch einen Tennisplatz, eingefasst von hohen Hecken wie einst – dezenter Hinweis der Bühnenbildnerin Serena Rocco– die Lustwandelparks des Ancien Régime. Allzu viel her für die szenische Ausgestaltung gibt das Center-Court-Setting jedoch nicht, auch wenn die zeitweilige Rivalität zwischen dem Spanier Don Alvaro und dem russischen Grafen von Libenskof um die Gunst der verwitweten Polin Melibea in einem Zeitlupen-Tennismatch ausgetragen wird. Auch sonst ist der Rasenplatz Auflaufort für allerlei lustig sich Gebendes, wobei sich freilich schnell der Eindruck einstellt, dass hier des Komödiantischen zu viel getan wird und Rossinis "dramma giocoso" zur Reise in den Klamauk gerät.
Das betrifft nicht nur die Tendenz der Figurenführung, auf Primärreize abzuzielen, dort vor allem, wo erotisch angebandelt wird. Bedenklicher ist die Zuspitzung des Komischen zum Grotesken, wo sie sich des Gesangs bemächtigt. Rossinis Oper ist gerade dort genial, wo der Komponist das komische Element bereits in die vokalen Linien inkludiert hat, mit aller Hintergründigkeit, die diesem scharf blickenden Gesellschaftsbeobachter zur Verfügung stand. Die Interpreten Rossinis brauchen nichts anderes zu tun, als dieses genau berechnete Quantum ironischer Brechung auszuführen, gewiss mit Mitteln vokaler Verzierung.
Wenn in der Augsburger Inszenierung jedoch Sängerinnen und Sänger – nicht alle, aber einige maßgebliche – in ihren Partien das komische Element durch Überbetonung, Extremfiguration und drastische vokale Verfärbung noch besonders unterstreichen zu müssen meinen, verhunzt das Rossinis raffinierten Belcanto. Olena Sloia etwa gibt der Überspanntheit ihrer Gräfin Folleville vokal durch kleinkindhaftes Zornen übertriebenen Ausdruck, ein herber Störfaktor der Tonlage von Rossinis Partitur. Zu solchen Stimmharlekinaden neigen freilich auch andere Interpreten, phasenweise Jeanette Wernecke als Hotelbesitzerin Cortese, phasenweise auch Niklas Mayer als Cavalier Belfiore.
Die Neuzugänge am Staatstheater Augsburg lassen sich vielversprechend an
Dass es solcher Karikatur nicht bedarf, dass man als Protagonist besser damit fährt, sich auf Rossini zu verlassen, wird im Vergleich deutlich. Ekaterina Aleksandrova (Melibea) und Claudio Zazzaro (Libenskof) spielen in ihrer großen Szene mit folgendem Liebesduett ausschließlich die herkömmliche belkantistische Karte – schlank und beweglich in der Stimmführung, erfolgt die Affektäußerung hier durch genuin sängerische Mittel. Ein guter Einstand für die beiden Neuen im Augsburger Opernensemble, und auch ein weiterer Neuzugang lässt sich vielversprechend an: Avtandil Kaspeli, der als Don Profondo seine "Medaglie imcomparibili" nicht nur in Rossini-typischem Geschwindparlando mit präzise gesetzten Silben serviert, sondern diesen ariosen Nationalitäten-Katalog auch noch charakteristisch einzufärben weiß.
Ganz ohne Gäste lässt sich die Oper mit ihren nicht weniger als zehn Hauptrollen natürlich nicht bewältigen, am Premierenabend sticht dabei Janusz Nosek als idealtypischer Rossini-Bassbariton in der Rolle des Barons Trombonok hervor. Aber auch das angestammte Staatstheater-Ensemble versteht zu glänzen mit einer rollentypisch wunderbar lyrischen Corinna, gesungen von Jihyun Cecilia Lee. Augsburgs 1. Kapellmeister Ivan Demidov dirigiert die Aufführung lebendig und mit viel Sinn für die im Orchester sich spiegelnden Gemütsregungen der Protagonisten, greift auch höchstselbst kundig bei Rezitativen in die Cembalotasten - dennoch, ein klein wenig spritziger, raffinierter, explosiver hätte man sich die Augsburger Philharmoniker an diesem Abend gewünscht.
Am Ende begegnet man bei dieser "Reise nach Reims" einem zwar stummen, aber leibhaftig einher schreitenden Karl X. Ein König nicht im herkömmlichen, sondern im neuen Sinn: König der Tennis-Stars. Wurde einst Monarchen zugejubelt, will das wohl sagen, hat sich das menschliche Jubelbedürfnis inzwischen andere Götter erkoren, die es auf den Sockel hebt. So weit, so korrekt – aber als szenografische Essenz dieses famosen Stücks auch etwas dünn geraten.
Nächste Aufführungen am16. und 28. Dezember.