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Literatur
Uwe Wittstock: "Man kann Fry einen Helden nennen"
Der Autor spricht über sein neues Buch "Marseille 1940". Im Zentrum dabei der Amerikaner Varian Fry, dem es gelang, mehr als 2000 Menschen vor den Nazis zu retten.
Stefan Dosch
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:07 Uhr

Herr Wittstock, als Sie vor ein paar Jahren an Ihrem Buch "Februar 33" arbeiteten, stand da schon fest, dass es "Marseille 1940" geben würde?

Uwe Wittstock: Keineswegs. Bei "Februar 33" war ich sehr auf die ersten sechs Wochen von Hitlers Herrschaft fixiert, die ich in dem Buch geschildert habe. Ich habe danach eine Weile gebraucht, bis ich den Blick wieder auf andere Zeiträume richten konnte. Das ist mir erst ein paar Monate später gelungen. Und dabei bin ich auf den Amerikaner Varian Fry gestoßen und bin ihm dann immer intensiver nachgegangen. 

Im Sommer 1940, als deutsche Truppen Frankreich besiegt hatten, saß eine große Anzahl deutscher und österreichischer Exilanten – viele von ihnen Juden – in Südfrankreich fest, darunter so bedeutende Autoren wie Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Franz Werfel, Anna Seghers oder Hannah Arendt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gestapo ihrer habhaft werden würde. Was hat in dieser Situation einen jungen Journalisten, eben Varian Fry, dazu bewogen, sich für die Verfolgten einzusetzen, selbst nach Frankreich zu gehen und in Marseille eine Fluchthilfe aufzubauen?

Wittstock: Er hat dieses Risiko aus Idealismus auf sich genommen, er wollte Menschen in Not helfen. Die USA hatten damals kein Interesse, Flüchtlinge aufzunehmen. Man wusste auch nicht, wie die Deutschen sich verhalten würden, wenn aufkäme, dass da ein Amerikaner deutsche Flüchtlinge aus Frankreich herausbringen will. Für Fry gab es keinen äußeren Grund, das zu tun. Er selbst war kein Jude, er hatte einen sehr guten Job in den USA, den er aufgeben musste, er hat sich völlig uneigennützig großer Gefahr ausgesetzt.

Umso ungewöhnlicher sein Einsatz.

Wittstock: Absolut. Man kann Fry einen Helden nennen, der sich für andere aufopferte, um zu helfen. Er verdiente kein Geld damit, machte sich viele Feinde durch seine Arbeit.

In Ihrem Buch heben Sie deutlich hervor, dass Frys Fluchthilfe nicht die Aktion eines Einzelnen war, sondern viele weitere ganz uneigennützig mithalfen.

Wittstock: Fry war so etwas wie ein Teamchef. Er hatte in den USA zusammen mit einem Freund eine Hilfsorganisation gegründet und Geld gesammelt. Dann ging er nach Marseille, wo er Geld und Sachspenden an Flüchtlinge verteilte und diese humanitäre Hilfe als Fassade benutzte, hinter der er illegale Menschen aus Frankreich herausschmuggelte. Dafür brauchte er viele Mitarbeiter. Fry hatte einen guten Blick für junge Menschen – er selbst war damals 32 –, die hoch begabt waren und ihm mit großer Loyalität halfen. Zum Beispiel Albert Hirschman, der nach dem Krieg einer der weltweit führenden Wirtschaftswissenschaftler wurde. Oder Mary Jane Gold, sie war Millionärin, spendete nicht nur viel Geld, sondern übernahm auch selbst ausgesprochen riskante Aufträge.

Ohne Unterstützer wie das deutsche Kommunisten-Ehepaar Fittko wären nicht so viele Flüchtlinge über abgelegene Pfade nach Spanien gelangt.

Wittstock: Fry beschaffte das Geld dafür und hielt den Fittkos den Rücken frei, damit sie dreimal die Woche mit Flüchtlingen illegal in den Pyrenäen über die Grenze gehen konnten. Sie riskierten bei jedem Grenzübertritt das eigene Leben. 

Bei allem Ernst der damaligen Situation haftet einigen Szenen in Ihrem Buch auch Amüsantes an. Etwa, wenn Lion Feuchtwanger als Frau verkleidet aus dem Internierungslager hinausgeschmuggelt wird.

Wittstock: Bei den Aktionen für die Flüchtlinge kam es immer wieder zu kuriosen Begebenheiten. So etwa auch, wenn Mary Jane Gold mit dem Kommandanten eines Internierungslagers heftig flirtet mit dem Hintergedanken, besonders Gefährdete aus diesem Lager zu befreien. 

Sie schreiben, dass Sie nichts erfunden hätten, dass alles zu belegen sei. Gilt das auch für die Dialoge im Buch?

Wittstock: Man muss unterscheiden zwischen dem, was man belegen kann, weil es in Aufzeichnungen, Tagebüchern, Autobiografien notiert wurde, und dem, was man eine historische Tatsache nennt. Historische Tatsachen sind schwierig zu rekonstruieren, im Grunde weiß auch der beste Historiker nie genau, wie die Dinge passiert sind. Aber wenn diejenigen, die an historischen Situationen beteiligt waren, ihre Erlebnisse aufschreiben, kann man das als Beleg bezeichnen, und das meine ich, wenn ich sage, ich kann alles belegen. Ich habe keine einzige Dialogzeile erfunden. Das ist das, was die historischen Figuren als ihre Erinnerungen notiert haben. 

Zurück in den USA, hat Fry erst spät Anerkennung für seine Verdienste erhalten. Woran lag das?

Wittstock: Unter anderem daran, dass er sich mit vielen zerstritten hatte. In Frankreich waren seine Leute ganz auf ihn eingeschworen. In Amerika haderte er mit seiner dortigen Hilfsorganisation, aber auch mit dem US-Außenministerium, weil zu wenige Visa für die Flüchtlinge ausgestellt wurden. Als er nach Amerika zurückkam, hintertrieb das State Department eine Anstellung Frys im Staatsdienst und seine eigene Organisation wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Trotzdem fragt man sich: Hatten Leute wie Feuchtwanger, Werfel oder Heinrich Mann vergessen, was sie Fry verdankten?

Wittstock: Das muss man leider so konstatieren. Von Dankbarkeit war nicht viel zu spüren, nachdem die Flüchtlinge in Sicherheit waren. Viele von ihnen hatten selbst größte Schwierigkeiten sich durchzuschlagen, es wurde ihnen vom Staat ja keine Unterstützung gewährt. Es gab aber auch sehr berühmte und besser gestellte Künstler, die sich nicht weiter um Fry kümmerten. Da war viel Undank mit im Spiel.

Im Nachwort zeigen Sie sich erstaunt, dass Fry in Deutschland – dem Land, aus dem wohl die meisten der von ihm Geretteten kamen – bis heute keine hinreichende Würdigung erhalten hat. 

Wittstock: Fry und seine Leute haben an die 2000 Menschen gerettet, das ist eine große Leistung. Und da er so viel für deutsche Schriftsteller und Künstler getan hat, wäre es meines Erachtens schon an der Zeit, Fry in Deutschland mal mit einer ausführlichen Biografie zu würdigen. Es gibt solche Bücher in den USA und auch in Frankreich, aber bei uns ist das nicht der Fall. Das finde ich, vorsichtig gesagt, traurig. 

Nun fällt das Erscheinen Ihres Buchs in eine Zeit, in der in Deutschland von „Remigration“, von Ausweisung und Vertreibung die Rede ist.

Wittstock: Ja, diese Konstellation habe ich auch bemerkt. Wirklich wichtig an meinem Buch ist mir, dass es hoffentlich gelingt, die Situation eines Flüchtlings zu beschreiben: Wie verloren er sich fühlt, wie schutzlos er allen Problemen ausgesetzt ist, denen er begegnet. Er hat alles hinter sich gelassen, seinen Besitz, seine Familie, Freunde, Beruf, muss in einer fremden Umgebung neu Fuß fassen. Das aus der Innenperspektive so zu beschreiben, dass auch ein Leser es nachempfinden kann, der noch nie vor etwas fliehen musste, das war mir wichtig. 

 
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